Dr. Shadi Bagherzadeh Azbari forscht an der Charité – Universitätsmedizin Berlin im Bereich Psychiatrie und Neurowissenschaften. Foto: Donya Joshani

„Wir erfassen die Gefühle der Menschen in Echtzeit“

Das interdisziplinäre Projekt „Deine emotionale Stadt“ ("Your emotional City") will verstehen, wie städtische Umgebungen unsere Emotionen, unser Verhalten und unsere psychische Gesundheit beeinflussen. Mithilfe einer App sammeln Forscher*innen wie Dr. Shadi Bagherzadeh Azbari in Echtzeit Daten darüber, wie die Hauptstadt auf ihre Bewohner*innen wirkt. Im Interview mit Online-Redakteurin Ludmilla Ostermann erklärt die Neurowissenschaftlerin, Psychologin und Forscherin der Forschungsgruppe Neurourbanistik an der Charité, wie die Urban Mind App funktioniert und wie das Projekt dazu beitragen kann, dass wir Städte in Zukunft positiver erleben.

Dr. Shadi Bagherzadeh Azbari forscht an der Charité – Universitätsmedizin Berlin im Bereich Psychiatrie und Neurowissenschaften. Foto: Donya Joshani

Warum ist es wichtig, die mentale Gesundheit von Stadtbewohner*innen zu untersuchen?

Bagherzadeh Azbari: Wir wollen zeigen, wie sich verschiedene städtische Umgebungen auf das emotionale Wohlbefinden auswirken. Damit wollen wir politische Entscheidungsträger*innen auf die Auswirkungen der Urbanisierung auf die psychische Gesundheit aufmerksam machen und uns für eine Stadtgestaltung einsetzen, die das psychische Wohlbefinden fördert. Das Verständnis von diesen Auswirkungen von Urbanisierung ist von entscheidender Bedeutung, da die Stadtbevölkerung wächst. Bis 2050 werden etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Stadtbewohner*innen ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen haben – um 40 Prozent höher für Depressionen und um 20 Prozent für Angststörungen. Unser Gehirn scheint nicht optimal auf das Leben in Städten und dicht besiedelten Ballungsräumen ausgerichtet zu sein. Im Alltag bietet die Stadt jedoch Freiheit, Chancen und ein unglaubliches Potenzial für die individuelle Entwicklung. Wie genau wirkt sich das Leben in der Stadt aus? Sind wirklich alle Stadtbewohner*innen gleichermaßen betroffen? Und kann es sein, dass Städte auch einen positiven Einfluss auf unser psychisches Wohlbefinden haben? Wenn wir die Antworten finden, können wir rechtzeitig handeln.

Wer arbeitet an dem Projekt „Deine emotionale Stadt“ und wie bist du daran beteiligt?

Shadi Bagherzadeh Azbari: Als klinische Psychologin und kognitive Neurowissenschaftlerin hat sich meine Arbeit schon immer darum gedreht, zu verstehen, wie das Gehirn Emotionen verarbeitet. An der Charité bin ich mit „Deine emotionale Stadt“ an einem Projekt beteiligt, das untersucht, wie Stadtbewohner*innen Emotionen in einer urbanen Umgebung wahrnehmen und verarbeiten. In diesem interdisziplinären Projekt kooperieren Kolleg*innen aus den Fachrichtungen Psychiatrie, Neurowissenschaft, Stadtplanung, Architektur, Philosophie, Soziologie und Ethnographie. Unser Ziel ist es, durch quantifizierbare Forschung ein tieferes Verständnis davon zu erlangen, wie städtische Umgebungen die Gefühle, das Verhalten und die psychische Gesundheit der Stadtbevölkerung im Alltag beeinflussen. Deshalb sammeln wir mit Hilfe der Urban Mind App Daten über Stress- und Wohlfühlorte in Berlin.

Das Projekt läuft seit August 2022. Kannst du uns schon einige Erkenntnisse aus den bisher gesammelten Daten nennen?

Bagherzadeh Azbari: Wir arbeiten gerade an einer Veröffentlichung, daher kann ich nicht zu viel verraten. Aber so viel kann ich sagen: Unsere Daten aus Berlin zeigen, dass Ästhetik in der Stadt, beispielsweise in Form von schönen Gebäude und Kunst, einen erheblichen Einfluss auf das emotionale Wohlbefinden hat – zusätzlich zu den gut dokumentierten Vorteilen von Grünflächen. Diese Erkenntnis ist für uns neu und spannend.

Wurde diese Art von Studie schon einmal durchgeführt?

Bagherzadeh Azbari: Es gibt zwar andere Studien über die Auswirkungen des Stadtlebens auf die psychische Gesundheit, aber unser Projekt ist aus mehreren Gründen einzigartig. Ab September werden wir die Studie mit einer neuen Version der App international durchführen. Wir starten unsere Untersuchung in der dicht besiedelten Stadt Bangalore in Indien, um zu sehen, ob sich unsere Berliner Ergebnisse damit vergleichen lassen. Außerdem ist die Studiendauer mit sieben Tagen kürzer als die für solche Studien üblichen 14 Tage. Das hält die Teilnehmer*innen bei der Stange und liefert eine Fülle von Daten. Nicht zuletzt stellen wir die App in fünf Sprachen zur Verfügung, um einen großen Nutzerkreis zu erreichen.

Traditionelle Laborsituationen können die Unmittelbarkeit und Variabilität realer Erfahrungen nicht vollständig wiedergeben

Dr. Shadi Bagherzadeh Azbari

Du hast erwähnt, dass es im September eine neue Version der App geben wird. Was ändert sich?

Bagherzadeh Azbari: Wir haben viel aus der Pilotphase gelernt. Die neue App wird leichter zu handhaben sein und etwa einen Fortschrittsbalken haben, der den Teilnehmenden zeigt, wie weit sie sind. Außerdem haben wir die Fragen gestrafft, damit sie leichter spontan zu beantworten sind, was für unsere Auswertungsmethodik entscheidend ist.

Warum ist der Aspekt der Teilnahme im Augenblick so wichtig?

Bagherzadeh Azbari: So können wir erfassen, wie sich die Menschen in Echtzeit fühlen und wie ihre städtische Umgebung diese Gefühle beeinflusst. Traditionelle Laborsituationen können die Unmittelbarkeit und Variabilität realer Erfahrungen nicht vollständig wiedergeben, daher ist es für unsere Studie wichtig, dass die Teilnahme einfach und intuitiv ist. Unsere freiwilligen Bürgerwissenschaftler*innen unterstützen uns so während des gesamten Prozesses.

Die Teilnehmer*innen sind gleich dreimal am Tag gefragt.

Bagherzadeh Azbari: Die App meldet sich bei den Teilnehmer*innen zur richtigen Zeit. Wenn wir dreimal am Tag Daten abfragen, erhalten wir einen reichhaltigeren und vielfältigeren Datensatz. So hilft uns die App zu verstehen, wie die Emotionen im Laufe des Tages und in verschiedenen Umgebungen schwanken. Außerdem nutzt sie GPS-Daten, um Karten zu erstellen. Wir wollen beispielsweise herausfinden, ob sich Menschen umgeben von Natur in einem Park wie dem Körnerpark in Berlin-Neukölln glücklicher oder weniger ängstlich fühlen als auf einem belebten Platz in der Innenstadt wie dem Alexanderplatz. Wir untersuchen, in welchen städtischen Räumen Menschen mehr positive oder negative Emotionen verspüren und welche Umweltfaktoren dabei eine Rolle spielen. Und wir wollen auch herausfinden, ob ästhetisch ansprechende Umgebungen mit positiven Emotionen einhergehen und überfüllte oder isolierte Räume mit Ängsten verbunden sind.

Wie sorgt ihr dafür, dass die Daten der Teilnehmer*innen sicher sind?

Bagherzadeh Azbari: Datensicherheit hat bei uns höchste Priorität. Wir sammeln grundlegende demografische Informationen wie etwa Alter und Geschlecht und behandeln sie mit größter Sorgfalt, wobei wir uns an die strengen Geheimhaltungsvorschriften der Charité halten. Es gibt keine Verbindung zwischen den erhobenen Daten und persönlichen Informationen – nur zwei Forscher*innen des Projekts haben überhaupt Zugang zu den Daten. Selbstverständlich erfüllen wir die strengen europäischen Datenschutzbestimmungen. Alle Teilnehmer*innen sollen sich sicher fühlen.

Wie viele Bürgerwissenschaftler*innen benötigt ihr für die Studie?

Bagherzadeh Azbari: Um einen robusten Datensatz zu erhalten, benötigen wir Daten von 20.000 Teilnehmerenden – nur so können wir verschiedene Städte vergleichen und aussagekräftige Schlussfolgerungen ziehen. Wir brauchen noch mehr Freiwillige, die als Bürgerwissenschaftler*innen mitmachen. Wir sind davon überzeugt, dass Berlin die Kapazitäten dafür hat.

Autor*in

Ludmilla Ostermann