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Prof. Dr. Arnim von Gleich ist Leiter des Fachgebiets Technikgestaltung und Technologieentwicklung an der Universität Bremen. Foto: IÖW – Institut für ökologische Wirtschaftsforschung

Ein Klärungsversuch

Bionisch gleich Nachhaltig?

Sind Technologien, die nach dem Vorbild der Natur entstanden sind, automatisch umweltfreundlicher, effizienter und sicherer? Prof. Dr. Arnim von Gleich, Leiter des Fachgebiets Technikgestaltung und Technologieentwicklung im Fachbereich Produktionstechnik an der Universität Bremen, nimmt das sogenannte „bionische Versprechen“ unter die Lupe.

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Prof. Dr. Arnim von Gleich ist Leiter des Fachgebiets Technikgestaltung und Technologieentwicklung an der Universität Bremen. Foto: IÖW – Institut für ökologische Wirtschaftsforschung

Lösungen, die von natürlichen Formen, Mechanismen oder Verhaltensweisen inspiriert sind, faszinieren – und werden in der Öffentlichkeit häufig als besonders genial, nachhaltig und risikoarm angepriesen: Schließlich war schon Darwin der Ansicht, dass nur diejenigen Individuen, die am besten an ihre Umgebung angepasst sind, überleben. Was im Laufe der Evolution entstanden ist und sich bewährt hat, kann also nur positiv sein? Halten technologische Lösungen, die sich an der Natur orientieren, auch wirklich ihr „bionisches Versprechen“?

Bionisches Versprechen steht nicht nur für Naturnähe

Nach dem Biologen Arnim von Gleich meint das bionische Versprechen: Bionische Technologien sind nicht nur naturnah. Sie schonen zudem Ressourcen, haben geringe Risiken und Nebenwirkungen, sind elegant und raffiniert, überzeugen durch ihre optimale Anpassung – und durch ökologische Nachhaltigkeit.[1]

Mögliche Gründe für die Berechtigung des bionischen Versprechens gibt es viele. Beispielsweise den engen Zusammenhang zwischen natürlicher Form oder Funktion und der technischen Lösung – wie beim Klettverschluss oder Fallschirm. Auch besondere Fähigkeiten bestimmter Lebewesen, die sich an veränderte Lebensbedingungen angepasst haben, können lehrreich sein für Forscher*innen und Entwickler*innen, die auf der Suche nach einer technischen Problemlösung sind.

Ein weiterer Ansatz ist, allgemeine Erfolgsleitlinien der Evolution zu finden und zu bestimmen. Mit diesen Prinzipien, so Arnim von Gleich, könnte es künftig möglich sein, technische Lösungen zu entwickeln, die ökologischer, intelligenter und flexibler, sicherer und robuster sind, zum Beispiel die folgenden:[2]

Solares Wirtschaften: Nutzen, was da ist

Lebewesen nutzen die natürlichen Gegebenheiten – etwa Sonnenenergie und Stoffe, die in ihrer Umgebung vorhanden sind, wie Kohlendioxid, Stickstoff, Kalk und Wasser. Und sie passen sich perfekt und nachhaltig in die Energie- und Stoffkreisläufe vor Ort ein.

Rohstoffe effizient nutzen

Manche Ressourcen, wie zum Beispiel bestimmte Nährstoffe, finden Lebewesen nur in kleinen Mengen vor. Lebewesen, die diese besonders wirkungsvoll nutzen, haben einen Überlebensvorteil. Oft verwertet dabei eine Art den Abfall einer anderen Spezies – wie bei einer Kreislaufwirtschaft, in der Ressourcen in Kaskaden genutzt werden. Ein Modell, das in Zeiten knapper werdender Ressourcen auch für neue Technologien an Bedeutung gewinnt.

Anpassungsfähigkeit: Jederzeit wandelbar

Organismen sind in der Lage, sich an Umweltveränderungen anzupassen, um zu überleben. Anders als ihre natürlichen Vorbilder versagen viele menschengemachte Lösungen derzeit bei veränderten Bedingungen jedoch ihren Dienst, weil sie auf genau festgelegte Bedingungen ausgelegt sind.

Baukastenprinzip für neue Lösungen

Wenige Bausteine – zum Beispiel Zellen – können in der Natur vielfältig miteinander kombiniert werden und eröffnen auf diese Weise vielfältigste Lösungen, um die Sicherheit und Anpassungsfähigkeit von Lebewesen zu verbessern.

Die Selbstheilungskräfte der Natur als Vorbild

Lebewesen, aber auch ganze Ökosysteme sind dazu in der Lage, ökologische Störungen wie zum Beispiel Dürren zu überstehen. In ihren Genen sind Reaktionsmöglichkeiten gespeichert, die in solchen Extremsituationen zum Einsatz kommen können. Sie sind dadurch widerstandsfähig, anpassungsfähig und innovativ. Man nennt das auch Resilienz. Und sie können sich selbst heilen und organisieren. Bionische Technologien der Zukunft sollten auch so eine Art Immunsystem und die Möglichkeit besitzen, kleinere Fehler und Wunden selbst zu beseitigen.

„Bionisch“ kein Gütesiegel

Je mehr dieser Prinzipien erfüllt sind, desto eher trifft das bionische Versprechen zu, so die These von Arnim von Gleich – und desto besser die Technologie. Allerdings müssen die Kriterien auf die jeweilige technische Lösung übertragen werden. Und ob ein technisches Produkt oder Verfahren tatsächlich „bionisch“ und damit nachhaltig ist, müssen Wissenschaftler*innen im Einzelfall überprüfen, so von Gleich. Denn nach Ansicht des Wissenschaftlers sollte „bionisch“ nicht als eine Art Gütesiegel betrachtet werden. Denn ein solches nach methodisch festgelegten Bewertungsverfahren vergebenes Siegel existiert für die Bionik nicht.[3]

Bei der Bewertung der Technologie oder Innovation gilt: Je besser der Transfer aus der Natur gelingt, desto eher hat das bionische Versprechen Gültigkeit. Die natürliche Funktion des Vorbilds muss verstanden und erklärt sein. Die Komplexität der Einsatzbedingungen und -zwecke sollte so vergleichbar wie möglich sein. Und je weitreichender die vorgenommenen Abstraktionen sind und je mehr synthetische Komponenten dazukommen, desto wahrscheinlicher werden Neben- und Folgewirkungen.

Dabei zeigen sich auch die Grenzen der Bionik: Mögliche Gefahren und Risiken müssen abgewogen werden – und verhindern oftmals, dass es eine neue Technologie bis zur Marktreife schafft. Auch die technische Realisierbarkeit nach bionischen Maßstäben kann an ihre Grenzen stoßen. Und schließlich unterliegt die Evolution auch Einschränkungen. Sie kann die vorhandenen Organismen nur ‚umformen‘. Das nennt man Pfadabhängigkeit. Die Kreativität der Forscher*innen und Entwickler*innen kann dagegen völlig neue Lösungen hervorbringen, die gegebenenfalls sogar besser, nachhaltiger oder risikoärmer sind.[4]

Außerdem sei zu bedenken, so der Experte, dass die Optimierungsziele in der Natur nicht zwangsläufig als Vorbild für technische Lösungen taugen, die soziale, wirtschaftliche oder ökologische Prozesse verbessern sollen. So zielt der Evolutionsprozess etwa auf das Überleben der Art ab – und nicht des einzelnen Lebewesens. Zudem vollzieht sich der evolutionäre Fortschritt sehr langsam. Und er ist ein bewusstloser Prozess. Das heißt: Wir dürfen uns „die Natur“ nicht als denkendes Lebewesen vorstellen, das bewusste Entscheidungen trifft. Die Entwicklung bionischer Lösungen sollte laut Arnim von Gleich im Rahmen eines bewussten verantwortungsvollen Handelns ablaufen und mehr Freiheiten genießen.[5]

Exkurs: Was steckt hinter dem Begriff Bionik?

Bionik: Lernen von der Natur

Der Begriff „Bionik“ (bionics) wurde 1960 durch den amerikanischen Luftwaffenmajor J. E. Steele geprägt. Er setzt sich aus den Begriffen Natur (Biologie) und Technik zusammen. Während man in den 1970er-Jahren unter Bionik eher das Nachahmen der Natur verstand, hat sich dieses Verständnis gewandelt, eine einheitliche Definition gibt es jedoch nicht.

Der Zoologe Prof. Dr. Werner Nachtigall – einer der Begründer der Bionik – beschreibt Bionik so: „Lernen von der Natur für Technik.“ Die Natur liefere aber keine Blaupausen. Es gehe darum, von den Konstruktions-, Verfahrens- und Entwicklungsprinzipien der Natur zu lernen: Wie etwas aufgebaut ist, wie etwas abläuft, sich entwickelt oder wächst – dadurch sollen Mensch, Umwelt und Technik besser miteinander vernetzt werden.[6]

Für Dr. Dr. Bernhard Irrgang, Professor für Technikphilosophie der Technischen Universität Dresden, beinhaltet die Bionik den Transfer biologischer Erkenntnisse in die Technik. Das bedeutet: Erfindungen der belebten Natur werden entschlüsselt und auf neuartige Weise in der Technik umgesetzt. Es handele sich aber um keine direkte Kopie, sondern „einen eigenständigen, kreativen Forschungs- und Entwicklungsprozess, das heißt ein durch die Natur angeregtes technologisches Neuerfinden, das bis zur Anwendung in der Regel über mehrere Abstraktions- und Modifikationsschritte abläuft.“[7]

Biomimikry: Das Genie der Natur nachahmen

Anders als die Bionik, die sich in der Regel mit einzelnen Techniklösungen beschäftigt, soll die Biomimikry dazu beitragen, technologische, gesellschaftliche und organisatorische Herausforderungen zu meistern. Die Forstwissenschaftlerin Janine Benyus prägte den Begriff, auch Biomimetik genannt. Sie verband mit ihm die Aufgabe, nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Der Mensch solle in seinen Entwürfen das Genie der Natur nachahmen und sich wieder in den natürlichen Kreislauf integrieren. Janine Benyus: „Etwas über die natürliche Welt zu lernen, ist eine Sache. Etwas von der natürlichen Welt zu lernen, das ist die Wende. Das ist der tiefgreifende Wandel.“[8]

Quellen und Literaturangaben

[1] https://www.oekologisches-wirtschaften.de/index.php/oew/article/view/528/528, S. 21
[2] https://www.oekologisches-wirtschaften.de/index.php/oew/article/view/435/435, S. 46f
[3] https://www.oekologisches-wirtschaften.de/index.php/oew/article/view/528/528, S. 22
[4] https://www.ioew.de/uploads/tx_ukioewdb/Bionik_Aktuelle_Trends_und_zuk%C3%BCnftige_Potenziale.pdf, S. 32f
[5] https://www.uni-stuttgart.de/presse/archiv/themenheft/04/herausforderung_bionik.pdf
[6] https://www.oekologisches-wirtschaften.de/index.php/oew/article/view/435/435, S 48
[7] https://www.bpb.de/gesellschaft/umwelt/bioethik/33802/bionik
[8] https://biomimicry.org/janine-benyus/