Prof. Dr. med. Mazda Adli arbeitet als Psychiater und Stressforscher. Er ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und leitet an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Charité Mitte, den Forschungsbereich „Affektive Störungen“. Foto: Annette Koroll FOTOS
Wie Neurourbanist*innen die mentale Gesundheit fördern wollen
Wieviel Stadt macht uns krank?
Wer lange in einer Millionenstadt lebt, trägt ein höheres Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, als Landbewohner*innen. Der Berliner Stressforscher Mazda Adli erklärt im Interview mit Futurium-Redakteurin Ludmilla Ostermann zwei Faktoren für ausschlaggebend: soziale Dichte und Isolation. Nicht zuletzt durch kluge Stadtplanung lasse sich das Risiko aber minimieren. Deshalb haben sich Stadtplaner*innen, Soziolog*innen und Ärzt*innen im weltweit ersten Interdisziplinären Forum Neurourbanistikzusammengetan. Das Ziel: die mentale Gesundheit von Stadtbewohner*innen stärken.
Prof. Dr. med. Mazda Adli arbeitet als Psychiater und Stressforscher. Er ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und leitet an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Charité Mitte, den Forschungsbereich „Affektive Störungen“. Foto: Annette Koroll FOTOS
Welche Risiken birgt das Stadtleben für Bewohner*innen?
Mazda Adli: Bei Stadtbewohner*innen finden sich häufiger Folgeerkrankungen aufgrund von Stress als bei Landbewohner*innen. Dazu gehört die Depression, die eineinhalbfach so häufig vorkommt. Oder Angsterkrankungen, die 1,2 mal so häufig auftreten. Der Unterschied ist aber besonders deutlich bei der Schizophrenie. Je länger man in einer Stadt aufgewachsen und je größer diese Stadt ist, desto größer ist das Schizophrenie-Risiko im Erwachsenenalter. Grob gilt: Stadtbewohner*innen haben ein doppelt so hohes Schizophrenie-Risiko wie Landbewohner*innen. Interessanterweise findet man diesen Unterschied bei der Schizophrenie in den Städten des globalen Nordens, aber nicht im globalen Süden in den Mega-Citys.
Wie kommt das?
Adli: Sozialer Stress spielt hier eine große Rolle. Dieser Stress, der sich auf die Gesundheit auswirkt, tritt in Städten häufiger auf. Er entsteht nach unserer Auffassung aus der Gleichzeitigkeit von sozialer Dichte und sozialer Isolation. Dichte bei Enge und Überfüllung führt zu Verhaltensänderungen, häufiger Krankheit und vorzeitiger Sterblichkeit vieler Spezies. Denken wir an das Hühnerpicken in Legebatterien. Aber auch Menschen kennen das. Auf Dauer fühlen wir uns in beengten Verhältnissen nicht wohl. Und die negativen Folgen von sozialer Isolation sind lange bekannt: Viele Erkrankungen haben eine ungünstigere Prognose, wenn Erkrankte sozial isoliert sind. Soziale Isolation geht mit einer erhöhten vorzeitigen Sterblichkeit einher, mehr noch als Alkoholmissbrauch, Rauchen oder Fettleibigkeit. Soziale Isolation tritt dort auf, wo Menschen sich nicht zugehörig fühlen, wo Einsamkeit eine große Rolle spielt, oder auch wo Ausschlusserfahrungen gemacht werden.
In Delhi mit fast 29 Millionen Einwohnern ist die soziale Dichte aber doch viel größer als etwa in London oder Berlin.
Adli: Wir können Stress kompensieren. Dichte-Stress kann aufgewogen werden, wenn ein guter Grad an Zugehörigkeit empfunden wird. Und das scheint im globalen Süden der Fall zu sein. Zugehörigkeit verbessert unsere Stress-Resilienz. Wenn der Zugang zu Kompensations-Mechanismen eingeschränkt ist, beginnt das Problem. Soziale Dichte ist so lange positiv, wie jede*r Einzelne ein Gefühl der Kontrolle über die unmittelbare Umwelt erlebt – die Environmental Mastery. Wer sich ausgeliefert fühlt, wem der Zugang zu den Vorteilen einer Stadt wie Parks und kulturellen Einrichtungen – Urban Advantage – eingeschränkt ist und dann noch weitere persönliche oder genetisch bedingte Risikofaktoren hinzukommen – für die Person kann die Mischung toxisch werden.
Die psychische Belastung steigt, je ärmer die Nachbar*innen sind.
Gibt es Menschen, die besonders gefährdet sind?
Adli: Menschen, die ohnehin ein erhöhtes soziales Isolationsrisiko haben, gehören dazu. Studien zeigen etwa ein großes psychisches Erkrankungsrisiko bei Menschen mit Migrationshintergrund. Laut Untersuchungen steigt das Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, in der zweiten Generation sogar an. Eine Charité-Untersuchung von Menschen mit deutschem und türkischem Hintergrund hat sich die psychische Gesundheit von Bewohnerinnen in Wedding und Moabit angeschaut. Ein Ergebnis: Die psychische Belastung steigt, je ärmer die Nachbar*innen sind. Komischerweise spielt die eigene Armut keine Rolle. Und dieser Zusammenhang zeigt sich auch nur besonders ausgeprägt bei Menschen mit türkischem Hintergrund. Warum? Die deutschstämmigen gehören zur Mehrheitsgesellschaft und erfahren ein Maß an Zugehörigkeit, Menschen mit türkeistämmigem Hintergrund geraten derweil in den Strudel des sozialen Stresses. Wir gehen davon aus, dass es weitere Risikogruppen gibt, etwa ältere Menschen oder Alleinlebende. In Berlin lebt in jedem zweiten Haushalt ein Mensch alleine. Ein beträchtlicher Teil davon ist Empfänger*in von Transferleistungen oder lebt in besonders prekären Verhältnissen.
Wo setzt das Interdisziplinäre Forum Neurourbanistik da an?
Adli: Wir sind ein Zusammenschluss von Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen. Das Forum bringt die Gesundheitsforschung mit der Stadtforschung zusammen. Eine große Rolle spielt die Vernetzung hinein in zivilgesellschaftliche Strukturen und Verwaltungen. Wir wollen verstehen, wo Stress im städtischen Umfeld entsteht und dafür sorgen, dass unsere Ergebnisse in eine mentale Gesundheitsstrategie einfließen. Wir wollen den sozialen Stress in der Stadt kartieren. Deswegen arbeiten wir auch mit Geografen zusammen. Das ist die Voraussetzung dafür, denjenigen möglichst gezielte Präventionsmaßnahmen zukommen zu lassen, die sie benötigen. Wir sind zwar noch eine ganz junge Forschungsgruppe, haben aber schon eine Studie mit dem Umweltbundesamt hier in Berlin abgeschlossen. Darin geht es um den Einfluss städtischer Grünflächen und Umweltfaktoren auf psychische Gesundheit und die Stressempfindlichkeit des Gehirns. Es zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Grünflächen und besserer Stress-Resilienz im Gehirn von gesunden Berliner*innen.
Was macht Grünflächen denn eigentlich so gesund?
Adli: Das können wir noch nicht genau sagen. Ob es dran liegt, dass man sich mehr bewegt oder einfach das Wissen um eine Grünfläche in der Nähe. Und auch wie grün am Ende grün genug ist, müssen wir noch verstehen.
Stadtbewohner*innen haben einen besseren Zugang zu Bildung, Wohlstand und persönlicher Entfaltung. Trotzdem sind die Städte ambivalent.
Wenn uns das Stadtleben so sehr stresst – müssen wir alle aufs Land und ins Grüne ziehen?
Adli: Wir wollen nicht vor der Stadt warnen. Es geht darum, klar zu machen, dass unsere Städte wachsen und dichter werden. Wenn es stimmt, dass bis 2050 zwei Drittel der Menschen in Städten wohnen werden und entsprechend viele Menschen einem erhöhten Schizophrenie-Risiko ausgesetzt sind, dann bekommen wir ein Problem, wenn wir uns nicht darum kümmern. Städte erleichtern das Leben. Städte sind die kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Zentren. Stadtbewohner*innen haben einen besseren Zugang zu Bildung, Wohlstand und persönlicher Entfaltung. Trotzdem sind die Städte ambivalent. Wenn wir wollen, dass Städte eine lebenswerte Umgebung bleiben, müssen wir uns um die offenen Fragen kümmern: Wo entsteht Stress? Wo entstehen gesundheitsrelevante Einflüsse und wie können wir dem entgegentreten?
Was kann jede*r selbst gegen Stress tun?
Adli: Es ist gut, jeden Tag etwas für sich zu tun, etwas Selbstfürsorgliches. Jede*r kann die kulturellen Aspekte der Stadt entdecken. Hilfreich ist auch, sich mit der eigenen Nachbarschaft vertraut zu machen, mit den Menschen genauso wie mit der gebauten Umwelt. Dadurch entsteht ein Zugehörigkeitsgefühl. Sport tut ebenfalls messbar gut. Dabei regulieren sich die Stresshormone.
Und wie entfliehen Sie persönlich dem Stress?
Adli: Ich gehe gern ins Theater, mache aber auch viel Musik. Ich singe und habe den einzigen Psychiater-Chor der Welt gegründet, die „Singing Shrinks“. Beim Singen bauen wir nicht nur psychische Spannung ab, wir atmen tiefer und regelmäßiger und das führt zu körperlicher Entspannung. Das Singen aktiviert Emotionen, insbesondere beim gemeinsamen Singen im Chor. Das kann ich bestätigen. Nach einer Chorprobe geht es mir stets besser als davor.