Foto: Elena Mozhvilo auf Unsplash
Politikwissenschaftler Frederic Hanusch im Interview über planetaries Denken und was das mit unserer Demokratie zu tun hat
Wie denkt man wie ein Planet?
Klimawandel, Artensterben und Umweltzerstörung – die Auswirkungen menschlichen Handelns auf unseren Planeten sind unumstritten. Wie können wir unser Verhältnis zur Erde ändern und sie für zukünftige Generationen bewahren? Was für einen Beitrag können Demokratien dabei leisten? Der Politikwissenschaftler Dr. Frederic Hanusch erforscht, wie Demokratien und planetarer Wandel zusammenhängen und plädiert für ein „planetares Denken“. Im Gespräch mit Magali Mohr, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Futurium, erklärt er, wie man wie ein Planet denkt und wie planetare Politik und Institutionen aussehen könnten.
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Magali Mohr: Lieber Frederic, wir beschäftigen uns im Haus mit der Frage, wie man Demokratien für die Zukunft wappnen kann. Wo siehst du die größten Herausforderungen in Bezug auf die Zukunftsfähigkeit von Demokratien?
Frederic Hanusch: Ich glaube, eine der größten Herausforderungen ist, dass wir unsere Demokratien in eine Situation gebracht haben, wo sie zunehmend reaktiv agieren und nicht gestaltend. Man sieht zum Beispiel bei Extremwetterereignissen wie der Flut im Ahrtal 2021 oder den zunehmenden Waldbränden, dass man unglaubliche Investitionssummen bereitstellen muss, um klimabedingte Schäden wieder zu reparieren. Dieses Geld fehlt dann an anderen Stellen und engt den Handlungsspielraum für die Zukunft der Demokratie ein.
Mohr: Da kommt mir natürlich direkt die Frage in den Sinn, wie man den Handlungsspielraum der Demokratie denn wieder erweitern könnte. Eine Idee, mit der du dich am Panel on Planetary Thinking intensiv beschäftigst, ist das sogenannte „planetare Denken“. Wie denkt man wie ein Planet?
Der Interviewpartner
Frederic Hanusch ist wissenschaftlicher Geschäftsführer des "Panel on Planetary Thinking“ an der Justus-Liebig Universität Giessen. Er ist aktuell als Fellow am THE NEW INSTITUTE in Hamburg im Rahmen des Programms „The Future of Democracy“. Derzeit arbeitet er an einem Buch mit dem Titel "The Politics of Deep Time", um zu untersuchen, wie langlebige und langfristig denkende Institutionen gestaltet werden müssten.
Hanusch: Das dominante Paradigma der letzten Jahrzehnte, insbesondere nach 1990, war das der Globalisierung. Und diese Logik war immer sehr anthropozentrisch, das heißt, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Im Fokus steht die vom Menschen belebte Erdoberfläche und die Frage, wie wir für uns Menschen das Beste rausholen können. Wir verstehen mittlerweile, dass vom Erdinneren bis zur Atmosphäre der ganze Planet in Wechselwirkung mit dem steht, wie wir auf und mit ihm agieren. Dieses Denken haben wir bislang vernachlässigt.
Wir haben wir es immer mit unterschiedlichen Erden zu tun.
Mohr: Also geht es darum, mit dem Planeten zu leben, nicht nur auf ihm?
Hanusch: Genau, wir leben nicht auf einem Planeten, sondern wir sind ein Teil von ihm. Und dieser Planet ist auch nicht statisch, sondern wie die Wissenschaftler Nigel Clark und Bronislaw Szerszynski es in ihrem Buch Planetary Social Thought schreiben, haben wir es immer mit unterschiedlichen Erden zu tun. Die Erde war im Verlauf der Menschheitsgeschichte immer ein sehr wandelbarer Planet und kein fixer Hintergrund, vor dem wir agieren. Die beiden nennen diese verschiedenen Phasen des einen Planeten Erde – der einst total vereist und irgendwann vollkommen vertrocknet sein könnte – „Planetary Multiplicity“.
Mohr: Beim planetaren Denken geht es darum, vom Planeten und nicht vom Menschen aus zu denken. Aber die Realität ist ja, dass der Mensch diese ganzen Entwicklungen verursacht hat. Wie ist das planetare Denken mit dem Anthropozän vereinbar?
Hanusch: Das Anthropozän ist ein Teil des planetaren Denkens. Aber das Planetare geht darüber hinaus. Ein Beispiel: In der Kreidezeit hat sich der nordamerikanische Kontinent noch geformt. Da waren das noch mehrere größere Landstücke, der Meeresspiegel war höher und deshalb lag die Küste weiter im Landesinneren. In dem Staat Alabama ist durch die Verschiebung der Kontinentalplatten in einem Bereich, der damals unter Wasser lag, über einen langen Zeitraum Plankton gestorben. Das hat dazu geführt, dass die Erde an dieser Stelle seitdem sehr fruchtbar ist. Das ist jetzt zwischen 70 und 100 Millionen Jahren her. Und jetzt kommt die Menschheitsgeschichte und interagiert damit. Wenn man sich Karten anschaut, sieht man, dass genau in dem Bereich, wo die Plankton-Ablagerungen waren und die Erde besonders fruchtbar ist, besonders große Bauernhöfe entstanden sind, auf denen Baumwolle angebaut wurde. In diesen Baumwoll-Plantagen wurden dann ab dem 18. Jahrhundert afrikanische Sklaven eingesetzt und ausgebeutet. Das hat langfristig dazu geführt, dass der Anteil an Schwarzen Menschen dort besonders hoch ist. Das wiederum hat dazu beigetragen, dass dann genau in dieser Region bei der US-Wahl 2020 der Demokrat Joe Biden gewählt wurde, während im Rest Alabamas der Republikaner Donald Trump gewonnen hat. Das heißt, du kannst im Prinzip von dieser Erdgeschichte, wo sich Plankton irgendwann abgelagert hat, bis heute zu politischen Verhältnissen eine direkte Verbindung ziehen. Es geht also beim planetaren Denken nicht nur um ökologische Zusammenhänge, sondern genauso um soziale und politische.
Mohr: Das ist wirklich spannend!
Hanusch: Es geht also wirklich um ein Weiterdenken in zeitlicher und räumlicher Hinsicht, sogar bis in den interplanetaren Raum hinein.
Es geht beim planetaren Denken nicht nur um ökologische Zusammenhänge, sondern genauso um soziale und politische.
Mohr: Aber der Ansatz des planetaren Denkens ist nicht ganz neu, oder? Den habt ihr euch nicht ausgedacht?
Hanusch: Nein, gerade bei indigenen Völkern ist diese Denkweise etwas, das üblich ist. Man geht hier oftmals von dem Zusammenspiel aller Lebewesen und sogar Materie aus. Die Kosmologie vieler Aborigines besagt zum Beispiel: „Was auf der Erde geschieht, spiegelt sich im Himmel wider“. Indigene Gesellschaften haben sich ein unglaubliches Wissen zu der Natur und der Umwelt, die sie umgibt, angeeignet.
Mohr: Und was heißt das alles jetzt konkret für unsere Demokratie? Wie sieht planetare Politik aus?
Hanusch: Das ist etwas, woran wir selbst gerade noch arbeiten. Aber es gibt hier schon einige spannende Ansätze. Zum Beispiel können wir mittels neuester Technologien wie der Sensorik untersuchen, wie gesund unsere Wälder sind. Über Sensoren können wir sehen, wie viel Wasser oder wie viel Hitzestress Wälder haben. Und im Sinne einer planetaren Politik kann man sich dann fragen, ob es basierend auf diesen Daten nicht so etwas wie einen Willen oder eine Stimme eines Ökosystems geben könnte. Die Idee wäre, dass man die gesammelten Daten nutzt, um eine Politik im Interesse der jeweiligen Ökosysteme zu machen und diese so im politischen Prozess vertreten sind.
Mohr: Ich finde die Vision total spannend. Nun gehen die Interessen beim Klimaschutz aber schon heute so weit auseinander und wir tun uns vor allem auf globaler Ebene sehr schwer mit einer gemeinsamen Klimapolitik. Jetzt sagt ihr: global reicht eigentlich noch nicht, wir brauchen eine planetare Politik. Wie soll das gehen? Gibt es konkrete Ideen, wie man das schon im heutigen System integrieren könnte?
Hanusch: Ja, es gibt da einige ganz spannende Ideen. Zum Beispiel gibt es die Idee der Wissenschaftler*innen Anthony Burke und Stefanie Fishel. Sie schlagen eine Art Bürger*innen-Rat auf globaler Ebene vor, in dem Repräsentant*innen der 15 Biome, der regionalen Ökosysteme der Erde, vertreten sind. Dieser Erdsystemrat wäre dann bei den Vereinten Nationen angesiedelt und würde ähnlich wie der Sicherheitsrat den Frieden zur Aufgabe hat, sich um die Sicherung der Ökosysteme kümmern.
Ein Bürger*innen-Rat auf globaler Ebene, in dem Repräsentant*innen der 15 Biome der Erde vertreten sind.
Mohr: Ich würde gerne nochmal auf das Thema demokratischer Institutionen und wie diese sich in Zukunft weiterentwickeln könnten zu sprechen kommen. Ich habe gelesen, dass du von „deep time organizations“ sprichst. Was ist damit gemeint?
Hanusch: Nun ja, viele Prozesse wie der Klimawandel, oder Ziele wie der Erhalt genetischer Vielfalt laufen über unglaublich lange Zeiträume ab. Man braucht für diese Prozesse daher Institutionen, die sich langfristig damit auseinandersetzen. Wir haben uns angeschaut, welche von Menschen gebauten Organisationen bisher am längsten gehalten haben, um daraus mögliche Kriterien für zukünftige „deep time organizations“ abzuleiten, also Organisationen, die langlebig sind. Die meisten davon sind nicht unbedingt direkte Vorbilder die man 1:1 anwenden könnte – das japanische Königshaus etwa, das seit 2000 Jahren existiert oder die katholische Kirche. Aber es ist interessant zu schauen, ob sie etwas und was sie gemeinsam haben. Ein aktuelleres, positives Beispiel ist das Svalbard Global Seed Vault. Das ist ein Saatgut-Tresor auf der norwegischen Insel Svalbard, wo Pflanzensamen aus der ganzen Welt eingelagert werden, um die genetische Vielfalt von Kulturpflanzen für zukünftige Generationen zu erhalten. Diese Organisation ist so angelegt, dass sie über Jahrtausende hinweg überleben soll.
Samen in Glas und Folie.
Foto: Svalbard Global Seed Vault / Riccardo Gangale
Mohr: Und wie muss eine Institution aufgebaut sein, damit sie über lange Zeit überleben kann und relevant ist?
Hanusch: Wir haben zwölf Design-Prinzipien identifiziert. Nicht alle sind immer gleich anwendbar, aber ich nenne mal ein paar Beispiele. Zum einen ist es gut, wenn Organisationen an Orten platziert sind, die nicht von Grenzstreitigkeiten oder Kriegen direkt betroffen sein können. Das ist relativ banal. Dann ist es wichtig, dass man den Sinn der Organisation mit einem öffentlichen Zweck verbindet, also etwas, was im Interesse der Menschen ist, die dort leben. Außerdem ist die innere Verfasstheit dieser Institutionen entscheidend: dass sie es schaffen, externen Wandel in die Institution aufzunehmen. Oder auch, dass Organisationen es schaffen, gesellschaftliche Eliten einzubinden, ohne sich von diesen abhängig zu machen. Das sind Kriterien, die man nutzen könnte, um langlebige Organisationen für die Zukunft zu bauen.
Mohr: Uns im Futurium ist es ja immer auch wichtig zu fragen, was jede*r Einzelne tun kann. Kann denn jede*r Einzelne*r planetares Denken erlernen. Und wenn ja, wie?
Hanusch: Ja, auf jeden Fall! Worüber schon viel geschrieben wurde, ist der sogenannte „Overview Effect“. Das ist das Gefühl, das Astronauten beim Blick aus dem All auf die Erde haben – die Erkenntnis, dass unser Planet nur ganz klein ist und wie sehr wir Menschen doch alle in einem Boot sitzen. Die ganzen Streitigkeiten zwischen Staaten werden total irrelevant, wenn man tatsächlich die Erde so umkreist und sie als Ganzes gesehen hat.
Mohr: Schön und gut, aber nachdem es noch keinen bezahlbaren Massentourismus zum Mond gibt, ist das ja nicht wirklich eine Option für jedermann.
Wir sind tatsächlich auf einem sehr besonderen Planeten. Dem einzigen auf dem wir leben können.
Hanusch: Ja das stimmt. Aber es gibt natürlich mittlerweile auch schon sehr gute Filme darüber, die das visuell erfahrbar machen oder sogar Kapseln, in denen man sich so fühlt, als wäre man im All. Das ist dann ein Versuch, einen emotionalen Zugang zu diesem Denken zu bekommen, dass alles zusammenhängt. Ein Anblick, der mich persönlich sehr geprägt hat, war, als ich mir Fotos von den Oberflächen der verschiedenen Planeten angeschaut habe. Wenn man die sieht und sich vorstellt, dass man selbst dort steht, dann merkt man: Okay, wir sind tatsächlich auf einem sehr besonderen Planeten, dem einzigen, auf dem wir leben können. Die anderen sind alle zu heiß oder zu staubig oder haben keine Atmosphäre. In dem Moment, wo ich diese Bilder nebeneinander gesehen habe, wurde mir noch einmal klar, wie verletzlich unser ganzes Leben auf diesem Planeten doch ist.
Mohr: Das ist doch ein schöner Abschluss, der nachdenklich stimmt und vielleicht zu mehr planetarem Denken anregen kann. Vielen Dank, lieber Frederic, für dieses schöne Gespräch!
Hanusch: Ich bedanke mich!
Verschiedene Oberflächen von Himmelskörpern aus unserem Sonnensystem.
Fotos: ISAS / JAXA /Gordan Ugarovic; NASA; IKI /Don Mitchell /Ted Stryk / Mike Malaska; NASA /JPL /Cornell / Mike Malaska; ESA / NASA / JPL / University of Arizona; Mike Malaska