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Der Makrosoziologe Steffen Mau über Mobilität und Grenzen

„Globalisierung ist selten eine pauschale Öffnung für alles und jede oder jeden“

Während Menschen in Europa unablässig von A nach B reisen können, ist das Mobilitätsgefühl für Menschen aus dem globalen Süden ein ganz anderes. Der Makrosoziologe Steffen Mau schreibt in seinem Buch Sortiermaschinen über das Entgrenzungsnarrativ, dem die Immobilisierung großer Teile der Weltbevölkerung gegenübersteht. Im Interview mit Futurium-Onlineredakteurin Ludmilla Ostermann erklärt er dieses Paradox und spricht über die Grenzen von heute.

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Sind Sie selbst schon an einer Grenze aussortiert worden?

Steffen Mau: Ja, an verschiedenen Grenzen. Das ist mir bei Reisen in Südamerika immer mal wieder passiert. Aber auch in der DDR. Die Grenze um die DDR war eine Einschlussgrenze, bei der eine Regierung ihre Bevölkerung kaserniert und eine starke Regulierung von Ein- und vor allem Austritten vorgenommen hat. Das war für die ersten zwei Dekaden meines Lebens eine sehr zentrale Erfahrung – die Nicht-Durchlässigkeit von Grenzen.

1990 gab es zwölf Mauergrenzen, 2018 ganze 72 – warum ist das so, wenn doch alle Welt von Globalisierung spricht?

Mau: Es ist ein Paradox und überraschend, dass die Phase der Globalisierung von einer Härtung von Grenzen begleitet wurde. Beides passiert gleichzeitig, tritt im Tandem auf. Eine These ist, dass sich mit einer größeren Dynamik grenzüberschreitender Prozesse auch das Interesse an Schließung und Abwehr verstärkt. Globalisierung ist selten eine pauschale Öffnung für alles und jede oder jeden, sondern ein sehr selektiver Vorgang. Mauergrenzen dienen dazu, an Orten, an denen es starke Reibungen gibt, solche Sortierungsprozesse durchzusetzen und sehr effektiv bestimmte Territorien von unwillkommener Mobilität oder Migration abzuschotten.

Der Interviewpartner

Steffen Mau lehrt Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt sind von ihm die Bücher "Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen" (2017) und "Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft" (2019) erschienen. Er wurde 2021 mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet.

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Foto: Matthias Heyde

Wo verlaufen denn fortifizierte Grenzen heute? Was sind heute die Gründe für Mauern?


Mau:
Große Wohlstandsgefälle sind der Hauptfaktor für fortifizierte Grenzen. Wenn wir nach Afrika schauen: Botswana und Südafrika, die wohlhabendsten Länder im südlichen Afrika, haben stark militarisierte Grenzen gebaut. Es gibt aber auch Mauergrenzen, die auf eingefrorene Konflikte zurückzuführen sind: zwischen Marokko und Algerien; oder auf terroristische Bedrohungen: zwischen Saudi-Arabien und Jemen; oder auch auf nationale Selbstbehauptung, wie man es vielfach bei den Folgestaaten der Sowjetunion sieht. Hier haben die Grenzen durchaus noch eine militärische Funktion. Aber die meisten Mauergrenzen stehen an Orten, wo sehr ungleiche Lebensbedingungen und sehr ungleiche Wirtschaftsräume aufeinandertreffen.


Kulturelle Unterschiede spielen weniger eine Rolle?

Mau: Sie spielen eine überraschend geringe Rolle. Politische Unterschiede spielen manchmal eine Rolle, bei konfliktären Regimes oder unterschiedlichen Vorstellungen von Religionsausübung oder der Organisation politischer Macht. Es ist interessant, dass die meisten neugebauten Mauergrenzen zwischen muslimischen Ländern verlaufen – also gar nicht zwischen muslimischen und christlichen Ländern, wie man das klassischerweise mal angenommen hat. Das war eine Theorie der 90er Jahre von Samuel Huntington, der vom Clash of Civilizations gesprochen hat, bei dem unterschiedliche Kulturräume sich voneinander abgrenzen würden. Aber wenn wir jetzt die Mauerbauten betrachten, ist das nicht so. Jemen und Saudi-Arabien haben dieselbe Religion. Auch die Türkei ist ein Land, das viele Mauern baut. Hier geht es um Fragen terroristischer Bedrohung oder Migration ausgelöst durch bürgerkriegsähnliche Zustände in Syrien oder die Situation in Afghanistan. Das hat nichts mit Religion zu tun.

Woher kommt denn die verschobene Wahrnehmung, dass wir hier so viel von Globalisierung und offenen Grenzen und freier Bewegung sprechen?

Mau: Das ist natürlich die Perspektive der Privilegierten, der Mobilitätsprivilegierten. Das sind vor allem Menschen aus dem globalen Norden, für die die Globalisierung die Erfahrung von Grenzöffnung beinhaltete. Und es gab und gibt auch die Vorstellung, dass wenn alles mobiler wird – Informationen, kulturelle Artefakte, Kapital, Waren und auch Dienstleistungen –, auch die Bewegung von Menschen nicht nachstehen würde. Und so ist mindestens seit den 90er Jahren die Urerfahrung der Menschen aus dem Westen oder dem globalen Norden eben eine der Erweiterung von Mobilitätsmöglichkeiten gewesen. So hat sich das Entgrenzungsnarrativ von Globalisierung stark durchgesetzt und nicht die gleichzeitig mitlaufende Gegenentwicklung, die auch zur Globalisierung gehört. Sie lässt sich nicht als Gegenbewegung interpretieren, sondern als Kollateralphänomen. Öffnung und Schließung finden gleichzeitig statt. Und damit Mobilisierung und Immobilisierung, Beweglichkeit und Ortsfixierung. Das ist das Janusgesicht der Globalisierung.

Nicht jede Form von Austausch ist willkommen.

Warum bedingt Öffnung auch immer Schließung?

Mau: Durch Globalisierung gibt es verdichtete Austausche. Aber nicht jede Form von Austausch ist willkommen. Staaten versuchen zwischen willkommenen Grenzüberschreitungen und unwillkommenen zu sortieren. Im Fall von Kapital gibt es wenige Steuermöglichkeiten, im Bereich der Migration viel mehr. Das hat dazu geführt, dass Gruppen aus der westlichen Welt deutlich mehr Mobilitätsrechte haben, während andere systematisch davon exkludiert worden sind. Der Soziologe Zygmunt Bauman hat von unterschiedlichen Arten des Reisens gesprochen: Solange Reisende Geld bringen und konsumieren, sind sie willkommen, Migration um des Überlebens willen im Fall von Schutzsuchenden ist nicht willkommen. Das ist eine extrem starke Polarisierung des heutigen globalen Mobilitätsgeschehens.

Und es wird einmal mehr auf die Spitze getrieben mit kaufbaren Staatsbürgerschaften.

Das ist eine zentrale Entwicklung. Die Staatsbürgerschaft ist heute ein kommerzielles Gut geworden. Früher galten Formen einer politischen Loyalitätsbeziehung als wesentlich für staatsbürgerliche Mitgliedschaft, der Wechsel der Staatsbürgerschaft war an viele Voraussetzungen gebunden, etwa einen langen Aufenthalt oder Eintauchen in die politische Kultur. Heute muss man nicht mehr in einem Land leben und kann über Geld eine Staatsbürgerschaft erwerben. Mit diesem Erwerb erhält man dann eben auch passbezogene Mobilitätsrechte. Es gibt Studien, die zeigen, aus welchem Grund Superreiche die Staatsbürgerschaft wechseln oder eine zweite annehmen: Einer der Hauptgründe ist das visumfreie Reisen. Es geht also gar nicht so sehr um die Sicherheit des Geldes, sondern um die Möglichkeit, in einer globalen Mobilitätshierarchie weiter nach oben zu steigen.

Fluggesellschaften übernehmen dabei eine Grenzkontrollfunktion.

Für viele andere Menschen beginnt die Grenze gar nicht erst am Flughafen oder einer Mauer. Sie werden ausgebremst durch sogenannte Papiergrenzen.

Grenzen sind nicht nur Bauwerke, sie können auch aus Papier und Daten bestehen. Die Grenze begegnet Reisenden im Heimat- oder Transitland bereits, wenn sie sich bemühen, beweglich zu sein, um etwa ein Flugticket zu kaufen oder einen Flughafen zu betreten. Um ein Einreisevisum zu bekommen, müssen Menschen zu einer Botschaft. Die Ausstellung ist administrativ sehr aufwändig. Auch hier werden Menschen klassifiziert – nach Rückkehrwahrscheinlichkeiten oder Risiken des Visummissbrauchs. An den Ablehnungsquoten erkennt man eine starke Hierarchie: Menschen, die aus wohlhabenden Ländern kommen, haben im Falle von Visumpflichten eine geringe Ablehnungsquote. Menschen aus sogenannten Failed States oder armen Gebieten haben hohe Ablehnungswahrscheinlichkeiten. In der Regel aber beantragen ohnehin nur diejenigen ein Visum, die sich überhaupt noch Hoffnung auf eines machen können. Die allerstärkste Selektivität besteht schon in der Abschreckung derer, die nicht in der Lage sind, die formalen Kriterien zu erfüllen, die Unterlagen zusammenzusuchen und sie hochzuladen oder das Geld für die Bearbeitung zusammenzubringen. Das sind letzten Endes informelle Barrieren des Zugangs zu Mobilität. Fluggesellschaften übernehmen dabei eine Grenzkontrollfunktion – am Ort der Abreise. Immer mehr Staaten erlegen Flug- oder Transportgesellschaften Strafen auf, wenn sie Menschen ohne Eintrittslizenz befördern. Selbst im Schengen-Raum ist ein Taxifahrer dafür verantwortlich, diese bei Grenzübertritt zu kontrollieren. Tut er dies nicht, handelt es sich heute um Schleusertum und nicht etwa eine normale Dienstleistung. Die Kontrollaufgabe ist heute Sache eines Dienstleisters.

Haben wir eine Grenzindustrie?

Die gibt es: Große Firmen im Mauerbau, die wirtschaftlich sehr erfolgreich sind, weil eben viele Mauern gebaut werden. Aber es gibt auch Hersteller für Grenztechnologien wie akustische und thermische Sensoren oder Bewegungsmelder für die Grenzraumüberwachung; aber natürlich auch Technologien des Ein- und Auscheckens, des Kontrollierens, des Automatisierens von Kontrollprozessen. Die biometrische Datenerfassung wird immer wichtiger. Viele Technologiefirmen arbeiten daran, digitale Lösungen anzubieten und weiterzuentwickeln, die darauf gerichtet sind, dass die willkommenen Reisenden sehr komfortabel durchgeschleust werden – aber auch datenmäßig sehr gut klassifiziert werden können.

Die Grenze wird hier zu einer gläsernen Kaufhaustür.

Das Grenzerlebnis ist für manche also gar nicht mehr spürbar.

Das geht so weit, dass es eine Smartifizierung von Grenzen gibt in Form von automatisierten Schleusen oder Tunneln. Dort geben Reisende vorab ins Smartphone bestimmte Daten ein, die dort dauerhaft verbleiben – etwa über eine Gesichtserkennungssoftware oder einen Iris-Scan. Und wenn Reisende sich dann der eigentlichen Grenze nähern, kennt sie die Grenze schon und kann auf diese Daten zurückgreifen. Reisende können dann einfach so durchlaufen. Auf den Flughäfen in Dubai und anderen Golfstaaten gibt es solche Systeme bereits, wo Menschen durch Vorregistrierung zu vertrauenswürdigen Reisenden werden können. Die Grenze wird hier zu einer gläsernen Kaufhaustür, die sich von unsichtbarer Hand öffnet und sich hinter einem wieder schließt. Das ist die nicht spürbare Grenze. Und damit tritt sie in den Hintergrund unserer Aufmerksamkeit. Wer das genießen kann, wird die Grenze nicht zum Thema machen, während andere eine ganz andere Grenzerfahrung haben: die der Abwehr, der Exklusion, des Mobilitätsausschlusses.

Smarte Grenztechnologien sind nicht unumstritten.

Wir wissen, dass ein Social Scoring System wie in China auch in andere Länder verkauft worden ist. Zum Beispiel nach Venezuela. Und wir wissen, dass Autokratien und diktatorische Regimes daran interessiert sind, möglichst umfassende Informationen über einzelne Personen zu bekommen. China verhängt Travel Bans, wenn Menschen im Scoring-System schlecht abschneiden und in den roten Bereich rutschen. Dann können sie keine Tickets für Fernzüge oder Inlandsflüge mehr kaufen. So eine Art von Mobilitätseinschränkung bei nichtanständigem Verhalten in ganz anderen Lebensbereichen gibt es eben auch. Die Covid-19-Situation führt aktuell dazu, dass Gesundheitsinformationen auch zu grenzrelevanten Informationen werden und die Grenze damit heute räumlich nicht mehr am Rande eines Territoriums fixiert ist. Sie kann überall hinwandern, in Transit- oder Herkunftsländer, aber sie kann auch im Inland sein. Check-In-Systeme ähneln dem Vorgang, der an der Grenze stattfindet. Es sind teilweise auch dieselben Technologiefirmen, die dort zum Einsatz kommen. Die Firma Clear ist an US-Flughäfen aktiv und bietet eine Vorregistrierung für Reisende an. Sie können sich für Geld registrieren lassen, gehen durch spezielle Schleusen, in denen eine biometrische Authentifizierung erfolgt, und so viel schneller an den normalen Schlangen vorbeikommen. Clear sieht Covid-19 als große Chance, diese Technologie in der Fläche auszurollen. Das biometrische Verfahren ist dasselbe, nur würden noch Gesundheitsdaten dazukommen. Dann ist es eine Eincheck-Technologie für Konzerte, für öffentliche Gebäude und vieles mehr. So lässt sich Selektivität durchsetzen.

Menschen werden von der Grenze weggeschoben, damit ihnen der Asylstatus nicht gewährt werden muss.

Vorgelagerte Grenzen, wie die EU sie etwa in Niger betreibt, verwehren Menschen die Möglichkeit, Asylanträge zu stellen, da sie sicheres Terrain nie erreichen. Wie rechtens ist das?

Die Praxis der sicheren Drittstaaten schreibt fest, als dass ein Recht auf Asyl zum Beispiel in Deutschland nicht besteht, wenn jemand über einen als sicher deklarierten Drittstaat eingereist ist. Die Debatten darüber, welcher Staat als sicher eingestuft werden kann, sprechen Bände und zeigen, dass es ein zum Teil willkürlicher, von politischen Interessen geleiteter Prozess ist. Das Recht auf den Flüchtlingsstatus ist gekoppelt an das Erreichen eines Territoriums. Das Recht agiert territorial und die Art von Grenzkontrolle, die wir heute haben, hat sich vom Territorium abgelöst. Wenn man es schafft, die Schutzsuchenden am langen Arm der Kontrolle zu halten und sie das ersehnte Territorium nicht erreichen, dann ist es unmöglich, einen Asylantrag zu stellen. Die von der EU praktizierten illegalen Pushbacks durch die Grenzschutzagentur Frontex, das Zurückdrängen von Migrantinnen und Migranten im Mittelmeer geschehen aus genau dem Grunde, auch die Verantwortlichkeit wegzuschieben. Menschen werden von der Grenze weggeschoben, damit ihnen der Asylstatus nicht gewährt werden muss. Es gibt ein Verhältnis von Recht, Territorialität und spezifischer Form von Grenzkontrolle, bei der man versucht, die eigenen liberalen Selbstbindungen, die in den internationalen Konventionen wie dem Flüchtlingsrecht festgeschrieben sind, zu umgehen, weil man mit der Verlagerung von Grenzkontrolle mehr Möglichkeiten der Illiberalität hat. Das funktioniert auch durch Zusammenarbeit mit autokratischen Systemen, die in die Grenzkontrollen eingespannt werden und Hilfsfunktionen für dieses Abwehrinteresse übernehmen.

Müssten die Rechte dann nicht auch mit der Grenze mitwandern?

Damit verbunden sind Fragen: Wie kann man rechtssichere Verfahren auf einem anderen Territorium mit anderen sozialen und politischen Kontexten gestalten? Auch ein Asylverfahren ist nicht binnen einer halben Stunde zu organisieren. Und wenn Menschen aus unterschiedlichsten Gründen verfolgt sind, dann kann man sich schon fragen, ob Verfahren, die irgendwo in Nordafrika stattfinden, unseren rechtlichen Anforderungen genügen würden.

Wenige werden immer mobiler, der Großteil der Menschen wird immer immobiler. Welche Region ist heute weniger mobil als noch vor wenigen Jahrzehnten?

Wir haben Untersuchungen zu Veränderungen von visumfreiem Reisen gemacht. Daran lässt sich erkennen, dass in den 60er und 70er Jahren relativ viele afrikanische Staaten visumbefreit waren. Die Angehörigen dieser Staaten konnten in viele europäische Länder reisen, wobei jedes europäische Land je individuelle Anforderungen hatte. Heute gibt es eine einheitliche Liste und wir sehen, dass in dem Moment, in dem mehr Menschen mobil wurden, die Staaten des globalen Nordens selektiver wurden. Die Politik der Visabefreiung hat sich dann vor allem auf wohlhabende, demokratische Staaten gerichtet. Viele afrikanische Länder sind da herausgefallen. Afrika hat im Durchschnitt an Möglichkeit des visumsfreien Reisens deutlich verloren, Menschen aus Afrika haben heute weniger Mobilitätsmöglichkeiten, während Europa die eigenen Mobilitätsmöglichkeiten deutlich ausbauen konnte. Ein Visum ist eine starke Mobilitätsbremse. Um 70 Prozent weniger Menschen reisen in ein Land, wenn es eine Visumpflicht gibt. Sie verursacht Kosten, es ist ein administrativer Aufwand. Es ist also viel einfacher, sich einfach so über eine Grenze zu bewegen.

Das Buch

Der kosmopolitische Traum von einer grenzenlosen Welt hat in den letzten Jahren tiefe Risse bekommen. Aber war er überhaupt jemals realistisch? Steffen Mau zeigt, dass Grenzen im Zeitalter der Globalisierung von Anbeginn nicht offener gestaltet, sondern zu machtvollen Sortiermaschinen umgebaut wurden. Während ein kleiner Kreis Privilegierter heute nahezu überallhin reisen darf, bleibt die große Mehrheit der Weltbevölkerung weiterhin systematisch außen vor. Sortiermaschinen ist im Verlag C.H. Beck erschienen.

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Durch Menschen, die an Grenzen abgewiesen werden und in Lagern in Grenznähe ausharren, entstehen neue Zonen, innerhalb derer der rechtliche Status der Bewohner*innen ungeklärt bleibt. Was hat es mit diesem Phänomen auf sich?

Mit der Zunahme von Mauergrenzen entstehen Stau und Haltesituationen von Menschen, gegen die sich diese Grenzen richten. Es sind in der Regel Menschen, die nicht ohne Weiteres zurückkehren können, sondern es mit großer Mühe schaffen, an diese Grenze zu kommen und dann zum Halt gezwungen werden. Es kommt in Grenznähe zu spontaner Lagerbildung. Mauerbildung geht also mit Lagerbildung einher. Diese Lager haben ein Vorläufigkeitsversprechen, verwandeln sich teilweise aber in eine Form von Permanenz und überdauern. Menschen verbringen viele Jahre darin unter sonderrechtlichen Bedingungen in sozial und zum Teil medizinisch wie hygienisch prekären Situationen. Oft gibt es keine Entwicklungsperspektive. Sie werden zu Displaced Persons, Menschen, die keinen Ort mehr haben, sondern in einer Art von sozialer und politischer Kasernierung über viele Jahre dort leben müssen. Diese Lager institutionalisieren sich mit der Zeit, es gibt Versorgungs- und Hilfestrukturen und NGOs, die dort tätig werden. Die Bereitschaft von Staaten, diese Lager aufzulösen, ist gering. Letztlich werden die Menschen dort festgehalten, zum Teil mit Zäunen und Umgrenzungsstrukturen, die der Grenze selbst ähneln. Es gibt Kontrollen und begrenzte Ausgangszeiten, polizeiliche oder militärische Überwachung, so dass die Bewegung zwischen Lager und umliegendem Territorium stark eingeschränkt ist.

All diese Aspekte zusammengenommen: Können wir von einem Nord-Süd-Gefälle der Mobilität sprechen?

Es gibt ein starkes Gefälle: Die Zahl touristischer Reisen lag 1950 bei 25 Millionen, kurz vor Corona bei 1,5 Milliarden pro Jahr. Davon sind wahrscheinlich 80 Prozent Menschen des globalen Nordens gewesen. Wir wissen, dass die allermeisten Menschen der Welt noch nie ein Flugzeug betreten haben – 80 bis 90 Prozent. Pro Jahr fliegen nur zwei bis drei Prozent der Weltbevölkerung. Europa stellt 17 Prozent der Weltbevölkerung, dafür sind Menschen aus Europa aber für über 50 Prozent aller Flugreisen verantwortlich. Es gibt eine sehr starke Asymmetrie dieser grenzüberschreitenden Mobilität.

Grenzen sind immer beides, sie Schließungsformen, aber auch eine Brücke zum anderen.

Können Sie Grenzen auch etwas Positives abgewinnen?

Grenzen vollbringen eine soziale und politische Ordnungsleistung. Eine Welt ohne Grenzen ist heute vielleicht eine Vision, praktisch aber kaum vorstellbar, ohne dass wir zentrale Institutionen wie die Demokratie oder den Wohlfahrtsstaat oder auch Bildungsinstitutionen aufrechterhalten könnten. Die zentrale soziale Organisationsform, die wir kennen, ist nicht nur territorial organisiert, sondern auch eine spezifische Form von Staatlichkeit, die mit diesem Territorium verknüpft ist. Die Rechte, die sich daraus ableiten, sind Zugangsrechte zu kollektiven Ressourcen und staatlichen Leistungen. Der Staat gewinnt letztlich Handlungsmöglichkeit durch Formen von Grenzkontrolle und -schließung. Deshalb sind Grenzen nicht ohne Weiteres aufzuheben, ohne das Risiko einzugehen, dass diese Art staatlicher Leistungen in Bedrängnis geraten oder sogar zusammenbrechen würde. Zugleich muss man sagen, dass es keine notwendige Verbindung gibt zwischen der spezifischen Form von Offenheit von Grenzen und staatlicher Handlungsfähigkeit. Der Umkehrschluss, dass je geschlossener ein Staat, umso leistungsfähiger sei er, stimmt eben auch nicht. Man darf Grenzen auch nicht als vollständige Raumtrenner oder nur in ihrer Unterbrechungsfunktion sehen. Grenzen sind immer beides, sie Schließungsformen, aber auch eine Brücke zum anderen. Und diese Art von Grenzverhältnissen zwischen Ländern oder Territorien sind historisch sehr variabel gehandhabt worden. Länder konnten mit unterschiedlichen Grenzen leben und auch überleben. Die heutige Vorstellung, dass man möglichst abgeschottet sein und möglichst viel Kontrolle ausüben müsste, um Sicherheit zu gewährleisten, ist eine Chimäre.

Wie werden sich Grenzen weiter entwickeln?

Ich glaube, dass die Ablösung der Grenze vom Territorium nochmal verstärkt werden wird. Die territoriale Grenze verschwindet nicht, sie wird ihre Funktion behalten, aber sie wird vor allem an spezifischen Orten mit starken Reibungen und Wohlstandsgefällen eine Rolle spielen. Das Zweite ist die starke Verlagerung der Kontrolle in den öffentlichen Raum hinein, also Grenzen vor und hinter den Grenzen. Dieses Phänomen wird stark durch technologische Möglichkeiten und die Digitalisierung vorangetrieben. Wenn wir ein Mobiltelefon mit uns führen, haben wir so etwas wie einen ständigen Bewegungsmelder dabei mit allen auch personenrelevanten Informationen, die man immer wieder nutzen kann. So sind wir im öffentlichen Raum identifizierbar und die Grenze braucht nicht mehr den Eintrittsort, um zu festzustellen, ob wir uns lizensiert in einem Territorium aufhalten oder nicht. Das wird eine grundlegende Veränderung sein. Schon jetzt werden an vielen Grenzen biometrische Informationen gesammelt, mit denen manche Länder große Datenbanken aufbauen. Beim Zugang zu Bildung, Sozialleistungen oder Wohnungsmarkt werden Menschen über diese Art von Personenidentifizierung reguliert. Das sind dann keine räumlichen oder territorialen Grenzziehungen, sondern soziale.