Interview mit dem Innovationsforscher Rüdiger Haum
"Innovationen sind so gut wie die Gesellschaft, die mit ihnen umgeht"
In der Ausstellung werfen wir einen Blick auf vergangene Erfindungen. Das hilft manchmal, um die Entwicklung von Neuerungen, an denen die klugen Köpfe von heute tüfteln und forschen, zu beurteilen und zu hinterfragen. Im Interview erklärt Dr. Rüdiger Haum, Innovationsforscher und Leiter des Wissenschaftsteams am Futurium bis 2019, was wir aus der Vergangenheit lernen können, wie Innovationen entstehen und wie Neuerungen allen Menschen zu Gute kommen.
Warum sind Innovationen so wichtig? Brauchen wir sie überhaupt – und wofür?
Rüdiger Haum: Innovationen sind wichtig, weil sie erheblich zum Wirtschaftswachstum beitragen und die Lebensqualität verbessern können. Zum Teil können Innovationen auch Probleme lösen, wie etwa ein Filter zur Reinigung von Wasser.
Gibt es Innovationen, die allen Menschen zu Gute kommen?
Haum: Wenn durch Innovation die Wirtschaft wächst, sollte das allen zu Gute kommen. Man weiß allerdings jetzt, dass ohne staatliche Eingriffe die gesellschaftliche Ungleichheit trotz Wirtschaftswachstum zunimmt. Außerdem gibt es Innovationen, die die Umwelt schützen oder Menschen heilen.
Wie können wir zu mehr Innovationen kommen, die allen Menschen zu Gute kommen?
Haum: Ein erster Schritt ist, dass sich die Gesellschaft demokratisch auf Ziele verständigt, von denen alle Beteiligten profitieren. Ist dies geschehen, müssen Regierungen die Ziele durch entsprechende Gesetze und Verordnungen in Kooperation mit den Betroffenen sowie die Bereitstellung der notwendigen Mittel unterstützen. Die Wissenschaft müsste sich in der Forschung ebenso an den Zielen orientieren wie Unternehmen bei der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Wir Verbraucher*innen müssen darauf achten, dass die entsprechenden Innovationen auch angenommen werden und den Zielen entsprechen.
Nutzer*innen müssen von der Innovation wissen und sie verstehen, um sie anzuwenden.
Was braucht es, damit Menschen eine Innovation annehmen?
Haum: Abstrakt gesprochen müssen Innovationen einen relativen Vorteil gegenüber vergleichbaren Alternativen bieten. Sie müssen also billiger oder besser einen bestimmten Zweck erfüllen oder ein Bedürfnis zufrieden stellen. Außerdem müssen Nutzer*innen von der Innovation wissen und sie verstehen, um sie anzuwenden.
Manchmal setzen sich Innovationen allerdings nicht durch, selbst wenn sie Sinn machen. Warum hat sich zum Beispiel das Elektroauto nicht schon 1900 erfolgreich verkauft?
Haum: Oft konkurrieren verschiedene Technologien zur Erfüllung des gleichen Zwecks miteinander – so eben auch unterschiedliche Motorenarten zum Betrieb der damals neuen Automobile. Benzinmotoren setzten sich durch die einfachere Handhabung mittels Anlasser sowie die größere Reichweite durch. Nebeneffekte wie Lärm und schädliche Abgase nahm man in Kauf.
Ein anderes Beispiel: Heroin galt zunächst als brillant, entwickelte sich dann aber ganz anders.
Haum: Ohne staatliche Vorschriften kümmern sich Unternehmen oft nicht um unerwünschte Nebeneffekte ihrer Produkte. Dass wir sie so strenge Vorschriften zur Untersuchung von Nebenwirkungen bei der Arzneimittelzulassung haben, ist unter anderem das Ergebnis von Medikamenten-Tragödien wie Contergan oder eben Heroin. Gibt es geregelte Verfahren zum Test von Innovationen, versuchen Unternehmen mitunter, auf die Verfahren Einfluss zu nehmen, um mögliche Gefahren herunter zu spielen. Das jüngste Bespiel war die verdeckte Finanzierung von Studien zu dem Pestizid Glyphosat durch die Herstellerfirma Monsanto.
Wie kann man die unterschiedlichen Effekte von Innovationen einschätzen?
Haum: Das gibt es verschiedene Verfahren der Technologiefolgeabschätzung. Je näher ein Produkt an die Marktreife herankommt und je konkreter seine Eigenschaften werden, desto besser kann man Folgen abschätzen. Die aufwendigsten Verfahren zur Technologiefolgeabschätzung sind die Zulassungsverfahren für pharmazeutische Produkte. Aber die umfassen auch nicht alle Dimensionen von Effekten. So hat bei der Einführung der Anti-Baby-Pille niemand gefragt, was passiert, wenn massenhaft künstliche weibliche Hormone in die Flüsse gelangen. Nun stellt man fest, dass Fische das Geschlecht wechseln. Für viele Branchen und Produkte gibt es aber keine vorgeschriebenen Verfahren zur Technologiefolgeabschätzung.
Was muss alles geschehen zwischen Idee und Umsetzung einer Innovation?
Haum: Viel, denn Innovationsprozesse sind im Detail oft sehr komplex. Grundsätzlich braucht es neues Wissen oder eine Idee, aus dem ein Unternehmen ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung macht. Danach muss die Innovation am Markt zugelassen werden und auf Nachfrage treffen.
Es kann mitunter 30 oder 40 Jahre dauern, bis eine an einer Universität entwickelte Idee Anwendung in einem Produkt findet.
Wie lange dauert es von der Idee bis zur Umsetzung einer Innovation?
Haum: Es kann mitunter 30 oder 40 Jahre dauern, bis eine an einer Universität entwickelte Idee Anwendung in einem Produkt findet. Die Innovationsraten sind auch in verschiedenen Branchen unterschiedlich. Außerdem gilt: Je radikaler die Innovation, desto länger die Entwicklungszeit. Es hat zum Beispiel sehr lange gedauert, bis Mobiltelefone eine Alternative zu Festnetztelefone waren. Heute gibt es im Jahresrhythmus neue Modelle.
Was unterscheidet eine „kleine“ von einer „großen“ Innovation?
Haum: Von großen oder radikalen Innovation spricht man, wenn eine Technologie eine andere ersetzt – wie etwa die Dampfschifffahrt die Segelschiffe ersetzt hat. Kleine oder inkrementelle Innovationen sind dann Veränderungen in der bestehenden Technologie, also stärkere Dampfschifffahrt-Motoren. Außerdem sprechen Innovationsforscher*innen von neuen techno-ökonomischen Paradigmen. Das sind neue Technologien, die in praktisch allen Wirtschafts- und Gesellschaftsbereichen Veränderungen bringen und gleichzeitig durch Produktivitätssteigerungen die Wirtschaft wachsen lassen. Dazu gehören etwa die Elektrizität oder Öl. Momentan scheint die Digitalisierung sich als neues techno-ökomisches Paradigma zu etablieren.
Ab wann weiß man, ob eine Innovation wirklich radikal ist?
Haum: Das kann man durch viel Erfahrung und Technologiefolgeabschätzung ahnen. Sicher sein kann man erst hinterher, wenn die Innovation tatsächlich eine breite Anwendung gefunden und Veränderungen bewirkt hat.
Gibt es auch schlechte / gefährliche Erfindungen?
Haum: Alle Innovationen sind so gut oder schlecht wie die Gesellschaft, die mit ihnen umgeht. Im Fachjargon heißt das „Dual/Use Character“ – mit Stickstoff kann man zum Beispiel sowohl Dünger als auch Sprengstoff herstellen. Gesellschaften können sich aber darauf einigen, bestimmte Anwendungen von Technologien zu unterlassen, wie etwa bei der Gentechnik in der EU. Ob das dann gut oder schlecht ist, ist letztlich Ansichtssache.
Zu den innovativsten Ländern zählen westliche Industrieländer.
Welche Länder sind momentan sehr innovativ?
Haum: Zu den innovativsten Ländern zählen westliche Industrieländer. Dazu gehören die Schweiz, Schweden, die USA, die Niederlande, Großbritannien, Finnland, Dänemark und Deutschland. Ähnlich innovativ sind Singapur und Israel.
Was machen diese Länder besser als andere?
Haum: Grob gesprochen verfügen sie über eine verlässliche Verwaltung, hohe Ausgaben für Forschung und Entwicklung, ein gutes Bildungssystem sowie funktionierende Wissensflüsse zwischen Forschung, Unternehmen und Anwender*innen von Technologien.
Wie werden Innovationen zwischen Ländern geteilt? Gibt es Beschränkungen?
Haum: Innovationen gehören in der Regel den produzierenden Unternehmen und sind durch geistige Eigentumsrechte geschützt. In andere Länder gelangen sie, wenn dort ansässige Firmen die Rechte zur Nutzung oder Herstellung der Innovation kaufen oder das besitzende Unternehmen entscheidet, in einem anderen Land aktiv zu werden. Offizielle Beschränkungen gibt es bei Technologiefeldern, die Staaten als sensibel einschätzen, etwa Waffen oder bestimmte Kommunikationssysteme. De facto ist die Verbreitung von Technologien beschränkt, weil viele Unternehmen eine Weitergabe als Verlust von Wettbewerbsfähigkeit betrachten.