Präzisionsmedizin

Für jede*n die maßgeschneiderte Therapie

Krankheiten früher, wirksamer und schonender behandeln: Das verspricht die „individualisierte“ oder auch „personalisierte" Medizin“. Dabei sollen verschiedenste individuelle Faktoren berücksichtigt werden, die unsere Gesundheit und mögliche Krankheitsverläufe beeinflussen – ob Erbgut, Lebensstil, Geschlecht oder Alter.[1] So kann die Behandlung genau auf die Ursache einer Krankheit abgestimmt und gezielt in den Körper eingegriffen oder das richtige Medikament gefunden werden.

Wir erklären anhand verschiedener Beispiele, wie an maßgeschneiderter Medizin geforscht wird und was bereits möglich ist. Welche neuen Erkenntnisse könnten womöglich helfen, bestimmte Krankheiten besser zu therapieren?

1. HIV heilen mit Gentherapie?

Um menschliche Zellen zu infizieren, brauchen HI-Viren eine Eintrittspforte. Sie heißt CCR5 (ein Eiweiß) und befindet sich auf bestimmten Abwehrzellen (Immunzellen) im Körper. Manche Menschen bilden dieses Eiweiß jedoch aufgrund einer Genveränderung nicht aus oder es ist funktionslos geworden: HI-Viren können bei diesen Menschen die Zellen deshalb nicht mehr befallen. Wissenschaftler*innen und Ärzt*innen möchten Abwehrzellen von erkrankten Menschen deshalb so verändern, dass die HI-Viren nicht mehr andocken können – wie bei Menschen mit der Genveränderung. Das funktioniert zum Beispiel, indem das Knochenmark von Spender*innen transplantiert wird, die diese Genveränderung tragen. Da diese Therapie jedoch riskant ist und es schwierig ist, passende Spender*innen zu finden, kam sie bisher nur zweimal bei HIV-Infizierten zum Einsatz.[3] Mehr dazu erfährst Du hier.

Chinesische Forscher*innen berichteten im Herbst 2019 über den Fall eines HIV-Infizierten, dem Stammzellen transplantiert wurden, denen das CCR5-Gen fehlte. Das Besondere: Sie waren nicht von Menschen mit einer Genveränderung gespendet worden. Sondern per Genschere war das Gen der gespendeten Stammzellen im Labor inaktiviert worden. Eine Heilung des HIV-Infizierten konnte dabei zwar nicht erzielt werden, die genetisch veränderten Stammzellen siedelten sich jedoch erfolgreich im Knochenmark an. Sie entwickelten sich in unterschiedliche Blutzellen weiter, ohne das neue Merkmal zu verlieren.[4] Prof. Dr. Gerd Fätkenheuer, Leiter der Infektiologie, Klinik I für Innere Medizin am Universitätsklinikum Köln, und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie, dazu: „Die wichtigste Botschaft ist aus meiner Sicht, dass bei einem Patienten zum ersten Mal die Technologie der Genschere angewendet wurde, und dass dieser Eingriff ohne schwere Nebenwirkungen vertragen wurde. Ich würde vermuten, dass es bei der Durchführung noch Möglichkeiten der Optimierung gibt.“[5]

Mehr zum Thema HIV heilen kannst Du hier nachlesen.

2. Antikörper stoppen Blasenkrebs

Das menschliche Immunsystem kann Krebszellen von normalen Körperzellen unterscheiden und sie bekämpfen. Das funktioniert so: Die Krebszellen setzen spezielle Eiweiße frei. Bestimmte Zellen des Abwehrsystems transportieren diese Eiweiße zu den Lymphknoten und präsentieren sie dort speziellen Abwehrzellen. Erkennen diese die Krebszellen als Gefahr, werden die Abwehrzellen aktiv. Sie vermehren sich und wandern über den Blutkreislauf zum Tumor, um die Krebszellen zu bekämpfen.

Doch manchen Krebszellen gelingt es, der Immunabwehr zu entkommen.[6] Sie bremsen die Abwehrzellen mithilfe eines Eiweißes aus. Beim Blasenkarzinom ist es zum Beispiel ein Eiweiß namens PD-L1 (Programmed Death Ligand 1). Dieses blockiert die Abwehrzellen an einer Kontrollstelle auf der Zelloberfläche, einem sogenannten Immun-Checkpoint. Bestimmte Medikamente, sogenannte Immun-Checkpoint-Inhibitoren, verhindern dies. Die tumorbekämpfenden Abwehrzellen bleiben aktiv. Bislang sind zwei solcher Medikamente für die Behandlung von Blasenkrebs in Europa zugelassen worden. [7][8][9]

Mehr über die Behandlung von Blasenkrebs mit Checkpoint-Inhibitoren findest Du hier.

3. Mit der Kraft des Immunsystems gegen Blutkrebs

Unser Immunsystem schützt uns vor Bakterien oder Viren und bekämpft geschädigte Zellen. Zum Beispiel solche, die sich zu Krebszellen entwickelt haben. Doch Krebszellen machen sich oft „unsichtbar“ oder „hemmen“ das Immunsystem. Mithilfe der Präzisionsmedizin haben Wissenschaftler*innen und Mediziner*innen eine Möglichkeit gefunden, diese Tumorzellen zu bekämpfen. Bei der sogenannten CAR-T-Zellen-Therapie werden die weißen Blutkörperchen (T-Zellen) aus dem Blut der Patient*innen im Labor so verändert, dass sie die Krebszellen erkennen und zerstören können. Sie verfügen über einen Rezeptor („Chimeric Antigen Receptor“, kurz CAR), mit dessen Hilfe sie an ein Molekül der Krebszellen andocken.

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Bei bestimmten Formen der Leukämie kommt Präzisionsmedizin bereits zum Einsatz.

Foto: Dr_Microbe/iStock

Die größten Erfolge wurden mit dieser Therapie bisher bei Patient*innen mit bestimmten Formen der Leukämie erzielt. Als erstes Kind weltweit wurde Emily Whitehead behandelt. Bei der damals Sechsjährigen diagnostizierten Ärzt*innen eine nicht mehr behandelbare lymphoblastische Leukämie (mehr Informationen zu dieser Krankheit findest Du hier). Nach einer CAR-T-Zelltherapie ist sie seit 2012 tumorfrei.[10] Da die Behandlung zum Teil mit erheblichen Nebenwirkungen einhergeht, darf sie erst zum Einsatz kommen, nachdem mindestens zwei andere Krebstherapien (wie Bestrahlung oder Chemotherapie) nicht angeschlagen haben.[11] Zu den Nebenwirkungen zählt insbesondere der Zytokinsturm („Cytokin Release Syndrom": CRS), der durch eine starke Ausschüttung von Immunbotenstoffen durch die CAR-T-Zellen ausgelöst wird und schwere Grippe-Symptome wie hohes Fieber und Schüttelfrost bewirkt.

Bislang setzen Wissenschaftler*innen und Ärzt*innen die Therapie gegen verschiedene Blutkrebszellen ein. Bei Tumoren wie Brust-, Lungen- oder Hautkrebs ist diese Methode wirkungslos. Deshalb arbeiten Forscher*innen derzeit daran, auch eine maßgeschneiderte Therapie für diese Krankheiten zu entwickeln.

4. Risikoprüfung per Computer

Wie hoch ist das Risiko, Herzrhythmusstörungen zu bekommen? Mithilfe personalisierter Computermodelle sollen Ärzt*innen künftig abschätzen können, ob Patient*innen Gefahr laufen, ein sogenanntes (atypisches) Vorhofflattern zu bekommen. Dabei ziehen sich die Vorhöfe des Herzens ungewöhnlich schnell zusammen. Die Folge sind Herzrasen, Atemnot und Schwäche. Auch das Schlaganfallrisiko ist erhöht (mehr zum Thema Vorhofflattern erfährst Du hier).

Forscher*innen aus Freiburg und Karlsruhe entwickeln derzeit eine Methode, mit der individuelle Modelle des Herzens am Computer erstellt werden können. Mit deren Hilfe können sie vorhersagen, ob und wo bestimmte elektrische Erregungen, die für diese Erkrankung typisch sind, in den Vorhöfen auftreten.[12][13]

Auch die Wirkung von Therapien ließe sich vorab individuell einschätzen, so die Wissenschaftler*innen. Denn die Computermodelle können helfen, neue Therapien ohne Risiko für den Menschen auszuprobieren. Dazu beziehen die Forscher*innen Daten wie Größe und Form des Herzens einzelner Patient*innen mit ein, um so mögliche Risiken und Wirkungen einzelner Behandlungen individuell zu bestimmen. Dafür nutzen sie bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomografie. Die elektrische Aktivität des Herzens wird zudem per Elektrokardiogramm (EKG) aufgezeichnet (hier liest Du mehr zu dieser Methode.)

5. Passgenaue Behandlung bei Depressionen

Die Magnetresonanztomographie kommt auch bei der Behandlung von Depressionen zum Einsatz. Bisher ist es nicht einfach, sofort die richtige Therapie für die jeweiligen Patient*innen zu finden. Nach einer ersten Behandlung werden nur ein Drittel der Betroffenen wieder ganz gesund, die meisten benötigen mehrere Anläufe. [14] Amerikanische Wissenschaftler*innen haben ein Hirnsignal gefunden, das Hinweise darauf geben könnte, ob Patient*innen besser mit Medikamenten oder einer Psychotherapie geholfen werden kann.[15]

Sie machten Aufnahmen vom Gehirn ihrer Versuchsteilnehmer*innen. Diese litten alle erstmals unter einer schweren Depression. Anschließend bekamen diese per Zufall entweder spezielle Medikamente verschrieben (hier liest Du mehr dazu) oder eine sogenannte kognitive Verhaltenstherapie (mehr dazu erfährst Du hier).

Bei ihrer Untersuchung entdeckten sie, dass Patient*innen, bei denen im Ruhezustand bestimmte Bereiche im Gehirn besonders gut zusammenarbeiten, wahrscheinlich eher von einer Verhaltenstherapie profitieren. Bei den anderen schienen sich die Beschwerden eher durch Medikamente lindern zu lassen. Die Forscher*innen plädieren daher dafür, den von ihnen entdeckten Zusammenhang in weiteren Studien genauer zu untersuchen. Vielleicht könnten Hirnscans dann eines Tages dazu beitragen, möglichst schnell eine individuelle Therapie für einzelne Patient*innen zu finden.[16]

Quellen und Literaturangaben

[1] https://www.bmbf.de/de/individualisierte-medizin-378.html
[2] https://www.bundestag.de/resource/blob/483590/d05effc36b8d813021755f0d8f24ce32/WD-9-060-16-pdf-data.pdf
[3] https://www.nature.com/articles/s41586-019-1027-4
[4] https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa1817426
[5] https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4908256?pa=FWxlm%2BuXslcD5tevHcUSjznaOqzmwynhLF1VCCLro0Q0x4RCOEcQOC0XNy%2Fc6Pbns7CF3wx2Tu1U792SxywYLg%3D%3D
[6] https://www.roche.de/pharma/forschung/krebsimmuntherapie/index.html
[7] https://www.cancer.gov/news-events/cancer-currents-blog/2017/fda-nivolumab-bladder
[8] https://www.cancer.gov/news-events/cancer-currents-blog/2016/fda-atezolizumab-bladder
[9] https://www.ema.europa.eu/en/news/ema-restricts-use-keytruda-tecentriq-bladder-cancer
[10] https://www.aerzteblatt.de/archiv/196295/CAR-T-Zell-Therapie-Aussichten-und-Risiken
[11] https://www.vfa-bio.de/vb-de/aktuelle-themen/branche/car-t-eine-revolution-in-der-krebstherapie.html
[12] https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fphys.2018.01910/full
[13] http://www.kit.edu/kit/pi_2019_123_herz-aus-dem-computer-unterstuetzt-mediziner.php
[14] https://www.springermedizin.de/therapiepraediktion-und-f-mrt-basierte-biomarker-bei-depression/15534158?fulltextView=true
[15] https://ajp.psychiatryonline.org/doi/full/10.1176/appi.ajp.2016.16050518
[16] https://www.spektrum.de/news/hirnsignal-soll-richtige-therapie-verraten/1443557
[17] https://www.spektrum.de/wissen/was-koennen-hirnscans-und-was-nicht/1491877