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Neue Antibiotika-Wirkstoffe könnten künftig aus der Unterwasserwelt kommen. Spannend sind zum Beispiel verschiedene Meeresschwämme oder -schnecken. Foto: Theme Inn/Unsplash

Neue Wirkstoffe

Die Natur als Vorbild für Medikamente

Eine große Zahl an Ideen und Vorlagen für Wirkstoffe, die viele Krankheitsverläufe positiv beeinflussen oder sogar heilen können, finden wir in der Natur.

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Neue Antibiotika-Wirkstoffe könnten künftig aus der Unterwasserwelt kommen. Spannend sind zum Beispiel verschiedene Meeresschwämme oder -schnecken. Foto: Theme Inn/Unsplash

In Pflanzen, Tieren, Bakterien oder Pilzen finden sich Unmengen von „biologisch aktiven Substanzen"[1], die ihre jeweiligen Aufgaben mit großer Genauigkeit erfüllen. Sind diese Stoffe einmal identifiziert und isoliert, können sie für eine völlig andere Anwendung „umprogrammiert" werden. Durch chemische Veränderungen können sie so zu sehr wirksamen und sicheren Medikamenten entwickelt werden. Die große Herausforderung für die Forschung liegt darin, geeignete Stoffe in der Natur zu finden, ihre Wirkung zu verstehen und diese auf den hochkomplexen Organismus Mensch zu übertragen.

In der Wirkstoffentwicklung ist die Naturstoff-Forschung eine eigene Disziplin - hier werden neue Substanzen entwickelt. Sie sind die Grundlage für neue Medikamente, zum Beispiel gegen Krebs, Herz-Kreislauf-Leiden, Alzheimer oder chronische Schmerzen. Auch werden immer wieder neue Antibiotika-Wirkstoffe dringend gebraucht. Weil die vorhandenen Mittel aufgrund der hohen Anpassungsfähigkeit der Krankheitserreger unwirksam werden. Umso wichtiger ist die Grundlagenforschung: Damit können Forscher*innen verstehen, welchen neuen Wege beschritten werden müssen, um Krankheiten zu bekämpfen. Doch zwischen der Entdeckung eines neuen, vielversprechenden Prinzips und dem fertigen Medikament liegt ein langer, von vielen Hindernissen geprägter Weg. Am Ende schaffen es nur die wenigsten Substanzen wirklich in die Apotheken.[2]

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Grafik: Vom Reagenzglas in die Apotheke

Der Weg vom vielversprechenden Wirkstoff bis zum fertigen Medikament ist lang und aufwendig. In der Regel müssen die Kandidaten mehrere Studien durchlaufen, was im Schnitt zehn Jahre dauert und Investitionen von über einer Milliarde Euro bedeutet.

Am Anfang stehen die Grundlagenforschung und Wirkstoffsuche (1). Können die Forscher*innen hier aussichtsreiche Kandidaten identifizieren, geht es weiter in die präklinische Phase (2), um sie mit Labor- und auch Tierversuchen weiterzuentwickeln. In der dann folgenden klinischen Phase (3) geht es darum, Wirkstoffe am Menschen zu testen, zunächst mit freiwilligen gesunden Proband*innen und später mit Patient*innen. Dabei geht es um Sicherheit, Verträglichkeit und Wirksamkeit sowie die richtige Dosierung des künftigen Arzneimittels. Hat es diese Hürden erfolgreich genommen, folgt eine meist zweijährige Zulassungsphase (4) für letzte Prüfungen. Und am Ende kommt möglicherweise das neue Medikament in die Regale der Apotheken.

Marathon statt Sprint: Der lange Weg des Wirkstoffs

Wie stellen es die Forscher*innen an, nach Hinweisen aus der Natur zu suchen? Am Anfang steht die Suche nach dem biologischen Mechanismus, der für eine Krankheit verantwortlich ist. In vielen Fällen ist das ein Eiweiß (Protein), das durch seine biologische Funktion für ein bestimmtes Krankheitsbild verantwortlich ist. Die Wirkung dieses Proteins lässt sich in vielen Fällen durch ein kleines Molekül beeinflussen, zum Beispiel ein Hormon oder Vitamin.

Um ein solches geeignetes Molekül zu finden, werden sogenannte Substanzbibliotheken genutzt, die heute in voll automatisierten „Hochdurchsatz-Screenings" auf erste Hinweise für eine interessante biologische Wirkung durchsucht werden können. Dabei werden Zehntausende bis Millionen von Substanzen auf ihre Wirkung getestet. Stellen sich einige dieser Substanzen als nützlich heraus, werden die Moleküle so verändert, dass sie immer komplexere „Modelsysteme", also zum Beispiel eine geeignete Zelle oder ein Protein, in die gewünschte Richtung beeinflussen. Wirken die „optimierten Verbindungen" sicher, werden sie weiter verbessert und zuerst im Tier und anschließend im Menschen auf Wirksamkeit und Sicherheit geprüft. Die Reihenfolge, Durchführung und die Auswertung solcher Versuche ist von den jeweils zuständigen Gesetzgebern sehr genau vorgeschrieben und geregelt. Ein neu zugelassener Wirkstoff muss zum Beispiel eine „überlegene" Wirksamkeit gegenüber bereits auf dem Markt erhältlichen Medikamenten besitzen und sicher in der Anwendung sein.

Doch bevor ein Wirkstoff zum Medikament wird, muss er durch einen langwierigen Prozess, der oft mehr als zehn Jahre dauert und Milliarden kosten kann. Dafür sind viele Einzelschritte nötig. Am Anfang steht immer die Entdeckung eines Wirkprinzips, für die oft 10 000 oder mehr Prüfsubstanzen getestet werden. Dieser Phase folgen mit der „Vorklinischen Prüfung" diverse Labor- und Tierversuche. Dabei bleiben in der Regel etwa 250 Prüfsubstanzen übrig, die dann in Klinischen Prüfungen auf ihre Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit getestet werden – mit gesunden und erkrankten Proband*innen. Die verbleibenden Stoffe gehen dann wiederum in die Prüfung und Zulassung.[3] Und vielleicht, wenn alle Hürden genommen sind, steht am Ende das fertige Arzneimittel.

Mission impossible: Was muss ein Wirkstoff alles schaffen?

Um es in ein Medikament zu schaffen, muss eine Substanz sehr viel mitbringen. So muss sie...

  • den Zielort im Körper erreichen, ohne vorher komplett ausgeschieden oder abgebaut zu werden
  • mit Molekülen des Körpers oder eines Erregers wechselwirken und diese so verändern, dass ein Krankheitsbild positiv beeinflusst wird
  • später, nach getaner Arbeit, wieder ausgeschieden oder zu unschädlichen Stoffen abgebaut werden
  • auch bei mehrfacher Überdosierung nicht giftig sein
    für Embryonen unbedenklich sein
  • keine Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten oder Nahrungsmitteln verursachen
  • ausreichend verfügbar sein, damit die erforderlichen Mengen an Arzneimitteln hergestellt werden können.[4]
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Marathon der Moleküle: Damit aus einem aussichtsreichen Wirkstoff ein Arzneimittel werden kann, sind mehrere Phasen intensiver Forschung nötig. Zu Beginn der Grundlagenforschung können tausende verschiedene Moleküle in Frage kommen, am Ende der Wirkstoff-Entwicklung steht nur noch eines.

Naturstoff oder synthetischer Ersatz?

Zwar ist die Natur eine gigantische Inspirationsquelle für Medikamente und Heilverfahren, deren Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft ist. Nicht immer aber sind die Wirkstoffe in ausreichender Menge verfügbar. Und in den meisten Fällen müssen diese Wirkstoffe für die Anwendung im Menschen optimiert und angepasst werden. Ein Beispiel ist der japanische Meeresschwamm Halichondria okadai: Er enthält den Wirkstoff Halichondrin B, der sich für die Behandlung von Brustkrebs eignet. Um ihn als Medikament auf den Markt bringen zu können, wären Schätzungen zufolge mehr als 10.000 Tonnen des Schwamms nötig, das natürliche Vorkommen liegt aber bei nur 3000 Tonnen. Also musste ein synthetischer Ersatzstoff entwickelt werden.[5]

Auch die Bestände der amerikanischen Eibe hätten sich wohl schon dramatisch gelichtet, wäre nicht beizeiten synthetischer Ersatz gefunden worden. Bereits in den 1960er-Jahren hatte die Forschung den Wirkstoff Taxol in den Nadeln und der Rinde des Baumes entdeckt. Allerdings hätte die benötigte Masse für die weitere Forschung den Bestand ernsthaft gefährdet. Taxol wird längst synthetisch hergestellt. Bis heute gehört es zu den wichtigsten Wirkstoffen. Taxol tötet schnell wachsende Krebszellen wirksamer ab als gesunde Zellen, die langsamer wachsen.

Obwohl in den letzten zehn Jahren neue Technologien entwickelt wurden, um Milliarden von Molekülen effizienter zu testen, finden sich in der Natur immer wieder noch nicht genutzte Prinzipien. Diese eröffnen zum Teil völlig neue Wege für die Wirkstoffforschung. Ein Beispiel dafür ist die Nutzung von Crispr-Cas: Eine Art bakterielles Immunsystem wurde so weiterentwickelt, dass damit nun Eingriffe in das menschliche Genom möglich sind.

Inspiration aus der Tiefsee

Es gibt viele unterschiedliche Quellen für Wirkstoffe. Zum Beispiel könnten neue Antibiotika-Wirkstoffe aus der Unterwasserwelt kommen und – angesichts der zunehmenden Resistenzen gegen vorhandene Mittel – eine wichtige Rolle spielen.[6] Spannend sind etwa verschiedene Gruppen wirbelloser Organismen wie Schwämme, Manteltiere oder Meeresschnecken. Sie bewegen sich gar nicht oder nur langsam fort und produzieren deshalb chemische Signal- oder Abwehrstoffe, die für die Wissenschaft interessant sind.[7] Dass die Forschung hier bisher noch nicht so weit ist, liegt unter anderem daran, dass die marinen Organismen nicht so leicht zugänglich sind und sich im Labor nicht so gut kultivieren lassen. Hier liegt hier eine große Aufgabe für die Grundlagenforschung.

Quellen und Literaturangaben

[1] Chemische Biologie, Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie, Dortmund, https://www.mpi-dortmund.mpg.de/forschung/chemische-biologie
[2] Ebenda und „How are drugs developed? Producing a new drug is an expensive and time-consuming process that is subject to extensive regulation", Yourgenome.org, https://www.yourgenome.org/facts/how-are-drugs-designed-and-developed.
[3] „Arzneimittelprüfung", M. Grandoch, Institut für Pharmakologie, Universitätsklinikum Essen, https://www.uni-due.de/imperia/md/content/pharmakologie/arzneimittelpr__fung_internetversion.pdf
[4] "So entsteht ein neues Medikament", Februar 2018, Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V., https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/so-funktioniert-pharmaforschung/so-entsteht-ein-medikament.html
[5] „Neue Wirkstoffe kommen aus dem Meer", November 2014, Pharma-Fakten e.V., Eine Initiative von Arzneimittelherstellern in Deutschland, https://www.pharma-fakten.de/news/details/73-neue-wirkstoffe-kommen-aus-dem-meer/
[6] "Neue Wirkstoffe kommen aus dem Meer", Pharma-Fakten e.V.
[7] Lindel, Thomas/Hentschel, Ute: Faszination Meer, in: Kreysa, Gerhard/Grabley, Susanne (Hgg.), Vorbild Naturstoffe. Stand und Perspektiven der Naturstoff-Forschung in Deutschland, S. 44-51.