Prof. Dr. Klaus Kümmerer ist Professor für nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen an der Leuhana Universität in Lüneburg. Foto: Leuphana Universität Lüneburg
Medikamente und Chemikalien im Meer
Antibiotika auf dem Teller, Schmerzmittel im Glas
Große Mengen Kunststoffe und anderer Müll belasten heutzutage die Umwelt. In vielen Gewässern lassen sich aber auch Spuren von Medikamenten finden. Diese Wirkstoffe stellen ebenfalls ein Problem für den Lebensraum verschiedener Pflanzen und Tiere dar: Sie reagieren sehr empfindlich auf bestimmte Wirkstoffe. Doch die Rückstände der Arzneimittel können auch wieder zum Menschen zurück gelangen, beispielsweise über das Trinkwasser.
Prof. Dr. Klaus Kümmerer von der Leuphana Universität Lüneburg erklärt im Interview, welche Rolle Medikamentenrückstände im Wasser spielen, für wen diese gefährlich sein können und wie sich das Problem in Zukunft bewältigen lässt:
Prof. Dr. Klaus Kümmerer ist Professor für nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen an der Leuhana Universität in Lüneburg. Foto: Leuphana Universität Lüneburg
Herr Prof. Kümmerer, wie gelangen Medikamentenrückstände in Gewässer?
Prof. Dr. Klaus Kümmerer: Rückstände von Arzneimitteln wie etwa die der Anti-Baby-Pille, von Schmerzmitteln, Psychopharmaka oder Antibiotika kommen auf unterschiedlichen Wegen in die Gewässer. Zum einen werden überschüssige Medikamente zu Hause häufig unsachgemäß über die Toilette entsorgt und landen so im Abwasser. Zum anderen werden Wirkstoffe vom Körper nicht vollständig aufgenommen. Je nach Wirkstoff werden zwischen fünf und 95 Prozent als aktiver Wirkstoff wieder ausgeschieden und gelangen so in die Umwelt. Ein weiterer Teil der Rückstände stammt aus der Tierhaltung, auch Antibiotika.
Welche Auswirkungen haben diese Medikamentenrückstände für den Menschen?
Kümmerer: Die Wirkstoffe der Medikamente sind als Moleküle im Wasser gelöst und daher im Gegensatz zu Plastik nicht direkt sichtbar. Dadurch erfährt diese Problematik deutlich geringere Aufmerksamkeit, sollte aber dennoch nicht unterschätzt werden. Arzneimittelrückstände gelangen zum Teil über das Trinkwasser oder Lebensmittel wie Getreide zurück in die Nahrungskette. Das Problem ist, dass wir diese Stoffe unter Umständen ein Leben lang zu uns nehmen. Gerade wenn es sich um eine sehr niedrige Konzentration handelt, ist noch nicht ausreichend erforscht, welche Auswirkungen das auf Erwachsene oder die Entwicklung von Kindern haben kann. Hinzu kommt, dass alle bisherigen Risikoabschätzungen für Arzneimittelwirkstoffe auf Einzelstoffbetrachtungen beruhen. Es sind aber fast immer mehrere Stoffe gleichzeitig vorhanden. Bei älteren Menschen, die mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen, wissen wir, dass dies zu nicht unerheblichen negativen Wechselwirkungen führen kann.
Wie wirken sich diese Rückstände auf die Tiere und die Umwelt aus?
Kümmerer: In der Tierwelt haben wir bereits einige Erkenntnisse: Hormone im Wasser sorgen dafür, dass Fischbestände beispielsweise verweiblichen und sich dadurch nicht mehr richtig fortpflanzen. Schmerzmittel wie Diclofenac schädigen die inneren Organe von Fischen. Schwarmfische, die Psychopharmaka aufnehmen, verlassen plötzlich den Schwarm und werden dadurch leichte Beute. Wir wissen auch, dass selbst Wasserspinnen diese Stoffe aufnehmen. Das kann zur Folge haben, dass sie schlechtere Netze bauen. Krebsmedikamente lösen zum Teil selbst Krebs aus. Was das für die Organismen im Wasser bedeutet, wissen wir nicht.
Wie wirken sich diese Stoffe auf kleinere Organismen aus?
Kümmerer: Antibiotika wirken auch im Wasser gegen Bakterien. Diese Bakterien sind aber nicht schädlich, sondern wichtig, um Stoffe abzubauen und daher essenziell für ein sauberes Wasser und ein intaktes Ökosystem. Bakterien können durch Antibiotika Resistenzen entwickeln. Antibiotika im Wasser können resistente Bakterien bevorteilen. Die Resistenzen können aber auch auf andere Bakterien übertragen werden und damit wieder zu uns zurückkommen.
Wie können durch Medikamentenrückstände „negative Kreisläufe" entstehen?
Kümmerer: Klärschlamm wird häufig in der Landwirtschaft als Dünger verwendet. Manche Arzneimittel gelangen in den Klärschlamm, in der Tierhaltung in die Gülle. Beide werden als Dünger verwendet und im Boden von Pflanzen aufgenommen. Auf diesem Weg gelangen Rückstände zum Beispiel in Getreide. Das heißt, auch hier kommt ein synthetischer Stoff zu uns zurück, den wir in die Natur eingetragen haben – mit allen unerwünschten Folgen. Über den Boden können sie auch ins Grundwasser gelangen, welches häufig zur Trinkwassergewinnung genutzt wird.
Gibt es Reinigungsverfahren, die das Problem lösen können, und welche Herausforderungen entstehen dabei?
Kümmerer: 80 Prozent des Abwassers weltweit werden nicht gereinigt. Bei den verbleibenden 20 Prozent übernehmen Kläranlagen die Aufgabe der Abwasserbehandlung. Doch die Medikamentenrückstände werden nicht komplett entfernt. Bei der sogenannten erweiterten Abwasserreinigung wird das Wasser ergänzend zur herkömmlichen Abwasserbehandlung zum Beispiel mit Chemikalien wie Ozon oder Wasserstoffperoxid oder mit UV-Licht behandelt. Dadurch können zwar einige Stoffe abgebaut werden, oft geschieht dies aber nur unvollständig. Es entstehen wiederum neue Stoffe, die wir noch gar nicht kennen und die unter Umständen giftiger als die Ausgangsstoffe sind. Bei einem weiteren Verfahren mit Aktivkohle entstehen zwar keine neuen Stoffe, es wird aber auch nur ein Bruchteil der Stoffe entfernt und die Kohle muss während der Reinigung wieder aus dem Wasser gefiltert und wieder aufbereitet oder verbrannt werden. Da es so viele verschiedene Wirkstoffe gibt, kann es kein universelles Reinigungsverfahren geben, das alle Stoffe gleichermaßen filtern kann. Dazu sind die Eigenschaften der Arzneimittelmoleküle zu unterschiedlich. Selbst innerhalb einer Stoff- oder Anwendungsgruppe wie beispielsweise Antibiotika kann das Reinigungsergebnis bereits stark variieren.
Wie wird sich die Situation der Arzneimittelrückstände in Gewässern in Zukunft entwickeln?
Kümmerer: Die Belastung durch Medikamentenrückstände wird in Zukunft weiter zunehmen. Immer neue Stoffe kommen auf den Markt, sodass auch die Vielfalt der Eigenschaften zunimmt. Die Stoffe, die wir bis heute hauptsächlich untersucht haben, können morgen schon nicht mehr von Bedeutung sein. Über die Eigenschaften der neuen Stoffe wissen wir natürlich noch nichts. Aber auch die Menge an vorhandenen Wirkstoffen wird weiter ansteigen. Der demographische Wandel und der zunehmende Lebensstandard begünstigen diese Entwicklung, denn die Menschen werden älter und benötigen mehr Arzneimittel.
Gibt es Ihrer Meinung nach langfristige Lösungsansätze?
Kümmerer: Um das Problem langfristig zu lösen, ist ein Umdenken erforderlich. Das fängt bei den Verbraucher*innen an. Ein besserer Umgang mit Medikamenten muss Trend werden. Ärzt*innen müssen über eine andere Verschreibungspraxis nachdenken, Apotheker*innen müssen für Beratung bezahlt werden. Mittlerweile ist die Hemmschwelle zur Einnahme eines Arzneimittels stark gesunken, obwohl viele Krankheiten mithilfe von Hausmitteln, einem anderen Lebensstil, ausreichend Bewegung oder einer ausgewogenen Ernährung behandelt werden könnten. Auch die Hersteller müssen umdenken. Kleinere Packungsgrößen können ein erster Ansatz für das Problem überschüssiger Medikamente sein, die sonst in der Toilette landen. Der Trend sollte außerdem zu neuen Geschäftsmodellen gehen: Gewinne werden dann nicht mehr nur über verkaufte Mengen erzielt, sondern über die Weitergabe von Wissen, Schulungen und Beratung.
Heißt das, Arzneimittelrückstände im Abwasser werden auch in Zukunft ein Problem sein?
Kümmerer: Natürlich werden wir auch in Zukunft Arzneimittel benötigen, sie sollen nicht verboten werden. Wir wissen aber auch, dass manche Arzneimittel in der Umwelt bereits leicht und vollständig abgebaut werden können. Wir konnten sogar zeigen, dass diese Eigenschaft gezielt von Beginn an in Wirkstoffe eingebaut werden kann und sie dennoch alle medizinischen und pharmazeutischen Anforderungen erfüllen. Damit kann auch ein neues Geschäftsmodell entstehen. Das kann ein Anreiz für die Arzneimittelhersteller sein. Natürlich sollte der Staat das durch entsprechende Gesetzgebung auch einfordern.
Über Prof. Dr. Klaus Kümmerer
Dr. Klaus Kümmerer ist Professor an der Leuphana Universität Lüneburg und forscht dort zu Nachhaltiger Chemie, Stofflichen Ressourcen und Spurenstoffen in der aquatischen Umwelt. 2009 erhielt er den Recipharm International Environmental Award für seine Forschung über Arzneimittel in der Umwelt und nachhaltige Pharmazie sowie 2015 den Wasserressourcenpreis der Rüdiger Kurt Bode-Stiftung.