Ein Gespräch mit Samson Itodo über den Niedergang der Demokratie

Afrikas Sehnsucht nach Demokratie und die Hoffnung auf demokratische Erneuerung

Im Herbst 2023 führten Samson Itodo, Rechtsanwalt und Demokratieaktivist aus Nigeria, und Raphaela Hobbach, Politikwissenschaftlerin und Mitarbeiterin im Futurium, ein Gespräch über die Zukunft der Demokratie mit besonderem Fokus auf den afrikanischen Kontinent.

Raphaela: Herzlich willkommen, Samson! Ich würde gerne mit dir über den gegenwärtigen Stand der Demokratie sprechen – weltweit und speziell in deiner Region.

Samson: Danke, Raphaela. Ich freue mich immer, über Demokratie zu sprechen, denn ich bin fest von ihr überzeugt. Trotz ihrer Schwächen halte ich sie nach wie vor für die zuverlässigste Staatsform. Global gesehen muss man allerdings feststellen, dass die Demokratie auf dem Prüfstand steht. Denken wir nur an die Coronapandemie, an den Krieg zwischen Russland und der Ukraine, schauen wir nach Myanmar, China oder gar in die USA. Auf allen Kontinenten haben wir mit demokratischen Rückschritten und einem Rückgang der Demokratie zu kämpfen.
Afrika erlebt seine ganz eigene Form des demokratischen Niedergangs. Die Wiederkehr von Militärputschen und verfassungswidrigen Machtwechseln ist alarmierend. Autoritäre Machthaber ändern die Spielregeln, um ihre Amtszeiten zu verlängern. In vielen afrikanischen Ländern ist die Art und Weise, wie Wahlen durchgeführt werden, hoch problematisch. In Südafrika wurden die Wahlen gestohlen, in Simbabwe haben die Machthaber die Wahlen genutzt, um ihren Verbleib im Amt zu legitimieren. Dasselbe ist in Sierra Leone und Nigeria geschehen.
Quer über den Kontinent ist die Armutsquote hoch. Das bricht mir das Herz, denn der Anspruch der Demokratie ist ein anderer. Im Idealfall sollte sie einen Markt schaffen, auf dem die Wirtschaft tatsächlich gedeihen kann. Das ist aber leider nicht der Fall. Die Demokratie in Afrika steht gerade auf dem Prüfstand, weil die Menschen frustriert sind und es leid sind, dass die Demokratie zwar ein besseres Leben verspricht, aber ihr Versprechen nicht einlöst. Die Leute wollen Nahrung und Sicherheit.

Laut Afrobarometer ist das Verlangen, die Sehnsucht nach Demokratie in Afrika ungebrochen.

Samson Itodo

Raphaela: Wie begegnest du angesichts dieser politischen Lage der Enttäuschung über den derzeitigen Zustand der Demokratie in Afrika?

Samson: Mit Yiaga Africa, unserer NGO zur Förderung der partizipativen Demokratie in Afrika, setzen wir auf eine Ausweitung der Rechenschaftspflicht. Wir unterstützen die Bürger*innen darin, von ihren gewählten Repräsentierenden Rechenschaft einzufordern. Aber bei der Demokratie geht es nicht nur um Wahlen. Den Menschen in Afrika wurde eine Form der Demokratie beigebracht, in der Wahlen Anfang und Ende ihrer demokratischen Teilhabe oder ihres Engagements sind. Aber die eigentliche Arbeit, die eigentlichen Aufgaben fangen ja erst nach den Wahlen an.
In Afrika gibt es glänzende Beispiele, die Hoffnung machen. Denken wir nur an die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung im Senegal, wo Präsident Macky Sall eine dritte Amtszeit für sich durchsetzen wollte. Die Bürger*innen und die Zivilgesellschaft haben gegen ihn mobil gemacht und Druck ausgeübt, damit er zurücktritt. In Sambia lag die Wahlbeteiligung bei über 80 Prozent. Diese Beispiele zeigen, dass die Afrikaner*innen das Vertrauen in die Demokratie nicht verloren haben. Das belegen auch die Daten: Laut Afrobarometer ist das Verlangen, die Sehnsucht nach Demokratie in Afrika ungebrochen. Was uns Sorgen machen sollte, ist die Tatsache, dass ältere Menschen die Demokratie stärker befürworten als jüngere.

Raphaela: Das überrascht mich. Wie lässt sich das erklären?

Samson: Ein Grund dafür ist die Wirtschaft. Die politische Führung hat versäumt, Arbeitsplätze zu schaffen. Auf dem gesamten afrikanischen Kontinent ist eine Wut spürbar. Die Unzufriedenheit unter jungen Menschen hat pandemische Ausmaße angenommen. Der andere Grund ist die Frage der Sicherheit. Wenn der Staat den Menschen kein Gefühl der Sicherheit geben kann, hat er in seiner Verantwortung versagt. Die Menschen stellen sich die Grundsatzfrage: Warum sollten wir der Demokratie vertrauen, wenn die politische Führungsriege ihre Wahlversprechen nicht einhält? Warum sollten wir der Demokratie vertrauen, wenn wir von politischen Entscheidungen ausgeschlossen sind?
Bestehende Probleme und zweifelhafte politische Praktiken wie Vetternwirtschaft schrecken die Bürger*innen davon ab, sich zu beteiligen. Junge Menschen suchen nach Alternativen. Manche von ihnen sehen eine solche Alternative in einer Militärdiktatur. Ich bin davon überzeugt, dass wir uns unter einer Militärdiktatur nicht weiterentwickeln können – Nigerias Erfahrung ist ein Paradebeispiel dafür. Deshalb müssen wir weiterhin junge Menschen mobilisieren und sie davon überzeugen, dass eine Militärherrschaft unsere wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen nicht bewältigen kann. Die Lösung liegt in der Demokratie – also in einem System, das darauf basiert, dass wir alle uns beteiligen und unsere Politiker*innen zur Verantwortung ziehen.

Raphaela: Was muss sich in deinen Augen ändern, damit die afrikanischen Demokratien in Zukunft widerstandsfähiger gegen Angriffe werden? Wie können wir künftige Militärputsche verhindern?

Samson: Ein wichtiger Punkt hierbei ist Vertrauen. Viele demokratische Gemeinschaften werden durch Fake News und Desinformation auseinandergerissen, weil das Vertrauen zwischen Staat und Gesellschaft fehlt. Ein Staat kann nicht erfolgreich sein, wenn seine Bürger*innen ihm nicht vertrauen. Und ein Staat muss sich dieses Vertrauen verdienen – und zwar durch mehr Transparenz gegenüber seiner Bevölkerung. Der Staat muss politische Maßnahmen erklären, muss mit Bürger*innen ins Gespräch kommen und ihnen die Möglichkeit geben, sich politisch zu beteiligen.
Der zweite Punkt ist die politische Bildung. Es ist unbedingt notwendig, dass die Menschen das Konzept der Demokratie verstehen, nämlich, dass Demokratie mit Herausforderungen und Grenzen einhergeht und kein Selbstzweck ist, sondern ein Prozess. All diese Informationen können und sollten in eine kreative politische Bildung eingebettet sein.
Und dann ist da noch die Frage der Rechenschaft, die ich bereits erwähnt habe. Ein Grund, warum die Demokratie so häufig in Frage gestellt wird, liegt darin, dass Angriffe auf die Demokratie meist unbestraft bleiben. Manche Afrikaner*innen haben das Vertrauen verloren, weil die Wächter unserer regionalen Normen und Vorgaben politisiert worden sind – sie haben weder die moralische noch die politische Legitimation, Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn Staatsoberhäupter Wahlen stehlen, ihr Volk unterdrücken und die Menschenrechte verletzen, muss sie jemand zur Ordnung rufen. Und genau hier können die regionalen Institutionen den Ausschlag geben.
Mein vierter und letzter Punkt bezieht sich auf die Verbesserung unserer Wahlen. Es ist entscheidend, dass die Menschen frei wählen können und dass ihre Wahl respektiert wird. Wir erleben zunehmend eine Verrechtlichung der Politik – d.h. die Justiz entscheidet, wer eine Wahl tatsächlich gewonnen hat. Aber es kann doch nicht angehen, dass ein paar Personen, die nicht gewählt, sondern von Politikern ernannt wurden, über den Wahlausgang entscheiden, wenn doch das Volk an der Wahlurne seine Entscheidung bereits getroffen hat!

Raphaela: Ich kenne die Debatte über die Verlagerung politischer Entscheidungen auf die rechtliche Ebene vor allem aus Osteuropa und den USA – interessant zu hören, dass dieser Aspekt auch in Afrika relevant ist. Wenn wir schon beim Thema Verteidigung der Demokratie sind: Welche Akteure und Bündnisse sollten sich hier zusammentun? Du hast bereits die regionalen Organisationen erwähnt.

Samson: Wir brauchen Allianzen über geografische und kommunale Grenzen hinweg. Also landesweite und transnationale Bündnisse, um demokratische Werte stärker zu verankern und dafür zu sorgen, dass Normen und Kontexte, die prägend für die demokratische Praxis in einer bestimmten Gemeinschaft sind, respektiert werden. Von Fachleuten in aller Welt können wir viel über die Institutionalisierung der Demokratie lernen. Bei meinem Besuch im Futurium habe ich eine großartige Illustration entdeckt, wie die Zukunft der Demokratie aussehen könnte. Ich möchte die Zukunft der Demokratie in Afrika – oder sogar in Nigeria – neugestalten. Ich denke, es gibt Raum für gegenseitige Lernprozesse und gemeinsamen Austausch, um die Demokratie voranzubringen.
Ein generationsübergreifendes Bündnis wäre ebenfalls wichtig. Die bereits erwähnten Daten aus dem Afrobarometer sollten uns wirklich Sorge bereiten, denn Afrika hat den größten Bevölkerungsanteil junger Menschen in der Welt. Wir sollten uns mit den Faktoren befassen, die junge Menschen dazu bringen, eher eine Militärdiktatur oder Militärregierung zu unterstützen als die Demokratie. Hierfür benötigen wir Allianzen zwischen Gemeinschaften, online und offline. Wir alle sind Teil unserer demokratischen Gemeinschaft, unabhängig von der digitalen Kluft.

Ich glaube, die Welt kann viel von Afrika lernen, wenn sie nur die nötige Bescheidenheit dafür aufbringt.

Samson Itodo

Raphaela: Am Futurium versuchen wir, unseren Blick in die Zukunft optimistisch zu halten. Zum Abschluss würde ich mich freuen, mehr über zukunftsweisende Ideen und Praxisbeispiele vom afrikanischen Kontinent zu erfahren.

Samson: In Afrika gibt es viele Lichtblicke. In Orten wie Kapstadt ist die Ungleichheit zwar riesig, aber es gibt Gruppen wie Equal Education, die sich für das Recht auf Bildung einsetzen und marginalisierte Teile der Bevölkerung ermutigen, sich einzubringen. Sie sorgen dafür, dass der Staat einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung schafft. In Uganda und Ruanda wurden Beteiligungshaushalte in die Praxis umgesetzt. Für die Teilhabe von Frauen an politischen Prozessen haben Länder wie Kenia beispielhafte Ansätze gefunden: Sie gehen das Problem mit einer Wahlurne an, die nur für weibliche Kandidatinnen bestimmt ist. In Nigeria mobilisiert sich die Zivilgesellschaft. Die erfolgreiche Kampagne „Not Too Young to Run“ zielt darauf ab, das Mindestalter für die Kandidatur für politische Ämter in der Verfassung herabzusetzen. Und mit der Bürgerbewegung #EndSARS protestierten junge Menschen gegen Polizeigewalt.
Die entscheidende Rolle junger Menschen in den sozialen Medien und im Technologiesektor hat viele Tech-Giganten dazu bewogen, sich hier niederzulassen und in Afrika zu investieren. Abgesehen von den Märkten hat Afrika auch großes Innovationspotenzial für die technische Optimierung von Dienstleistungen – sei es im Gesundheitswesen oder im Onlinehandel. Junge Afrikaner*innen entwickeln technische Lösungen, um die öffentliche Entscheidungsfindung in allen Bereichen zu erleichtern. Technologie spielt vom Sudan über West- und Nordafrika bis nach Zentralafrika eine entscheidende Rolle. Ich glaube, die Welt kann viel von Afrika lernen, wenn sie nur die nötige Bescheidenheit dafür aufbringt.

Raphaela: Dieser Satz scheint mir ein wunderbarer Schlusspunkt für unser Gespräch zu sein. Danke, Samson, dass du dir die Zeit genommen hast, dein Wissen mit uns zu teilen!

Autor*in

Dr. Raphaela Hobbach