
Foto von Marios Gkortsilas auf Unsplash
Ein Interview über Stickstoff mit dem Agrarwissenschaftler Professor Thomas Scholten
„Was in Maßen ein Segen ist, wird im Übermaß zum Problem“
Er ernährt die Welt – und gefährdet sie zugleich: Stickstoff ist für das Pflanzenwachstum unverzichtbar, doch sein Übermaß bringt Umwelt, Klima und Artenvielfalt aus dem Gleichgewicht. Der Agrar- und Geowissenschaftler Professor Thomas Scholten ist Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) und lehrt an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Er erklärt, warum die Landwirtschaft beim Stickstoffproblem eine Schlüsselrolle spielt und wie moderne Technologien helfen können.

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Was ist Stickstoff eigentlich genau?
Thomas Scholten: Stickstoff ist ein chemisches Element und der Hauptbestandteil unserer Atmosphäre – etwa 78 Prozent der Luft bestehen daraus. Für alle Lebewesen ist er essenziell: Pflanzen brauchen ihn zum Aufbau von Chlorophyll, DNA und Eiweißen. Ohne Stickstoff könnten sie nicht wachsen.
Warum spielt Stickstoff dann so eine zentrale Rolle in der Landwirtschaft?
Scholten: Weil er das Wachstum von Pflanzen maßgeblich bestimmt. Lange Zeit war Stickstoff auf natürlichen Wegen nur begrenzt verfügbar. Das änderte sich Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Haber-Bosch-Verfahren. Damit gelang es erstmals, Stickstoff künstlich zu fixieren und als Mineraldünger einzusetzen – ein Meilenstein. Der Ertrag auf den Feldern konnte massiv gesteigert werden. Diese Entwicklung hat maßgeblich dazu beigetragen, dass wir die wachsende Weltbevölkerung überhaupt ernähren können.
Klingt fast zu gut. Wo liegt das Problem?
Scholten: Genau darin: Was in Maßen ein Segen ist, wird im Übermaß zum Problem. Seit den 1980er-Jahren wurde deutlich, dass zu viel Stickstoff Umweltprobleme verursacht. Stickstoffverbindungen wie Ammoniak oder Lachgas tragen zur Überdüngung von Gewässern bei – Stichwort Algenblüten – und fördern den Klimawandel. Lachgas (N₂O) ist etwa 300-mal klimaschädlicher als CO₂ und bleibt viele Jahrzehnte in der Atmosphäre.
Wie wirkt sich das konkret auf die Umwelt aus?
Scholten: Wir sehen mehrere große Folgen: Erstens die Verschmutzung von Gewässern – zu viel Stickstoff gelangt ins Grundwasser oder in Seen und Meere, was zu Sauerstoffmangel und Fischsterben führen kann. Zweitens ist Stickstoff ein Treiber des Klimawandels – durch Treibhausgase wie Lachgas. Und drittens hat die Artenvielfalt stark darunter gelitten. Pflanzen, die gut mit Stickstoff umgehen können, verdrängen andere – gerade in Ackerrandstreifen wurde das früh sichtbar.
Über 90 Prozent der Ammoniakemissionen stammen aus der Landwirtschaft.
Und die Landwirtschaft ist hier der Hauptverursacher?
Scholten: Ja. Rund 75 Prozent der Lachgasemissionen und über 90 Prozent der Ammoniakemissionen stammen aus der Landwirtschaft – vor allem aus Tierhaltung und Düngung. Auch Stickoxide aus dem Verkehr spielen eine Rolle, aber der Landwirtschaft kommt beim Thema Stickstoff eindeutig eine Schlüsselrolle zu.
Was kann man denn konkret tun?
Scholten: Es gibt viele technologische Ansätze. Zum Beispiel die sogenannte Präzisionslandwirtschaft: Hier wird nicht mehr pauschal gedüngt, sondern bedarfsgerecht – je nach Bodenbeschaffenheit oder Ackerkultur beziehungsweise angebauter Pflanze. Moderne Traktoren mit GPS und Sensortechnik erfassen in Echtzeit, wo wie viel Dünger nötig ist. Auch im Bereich Tierfutter und Pflanzenzüchtung gibt es Fortschritte, um die Stickstoffmengen zu reduzieren.
Die junge Generation von Landwirt*innen ist oft sehr aufgeschlossen.
Aber das kostet – wie offen sind Landwirt*innen für solche Veränderungen?
Scholten: Die junge Generation ist oft sehr aufgeschlossen. Ein Landwirt aus dem Rheinland erzählte uns, dass er morgens zuerst den Wetterbericht checkt und Düngebilanzen berechnet – moderne Landwirtschaft eben. Es war phänomenal, mit dem jungen Mann zu reden. Schwieriger wird es bei Großkonzernen oder Agrarinvestoren, die riesige Flächen bewirtschaften. Dort zählen oft nur die Erträge.
Was müsste die Politik tun?
Scholten: Wichtig wäre ein Anreizsystem, das gute Praxis belohnt. Etwa Landwirt*innen finanziell unterstützt, die eine ausgeglichene Stickstoffbilanz vorweisen. Besser als reine Verbote oder Grenzwerte. Die Idee der freiwilligen Selbstregulierung hat in den letzten 30 Jahren leider nicht funktioniert.
Gibt es auch auf Konsumentenseite Handlungsbedarf?
Scholten: Absolut. Wer immer das billigste Nahrungsmittel kauft, fördert Massenproduktion – und damit oft auch hohen Düngemitteleinsatz. Weniger Lebensmittelverschwendung, bewusster Konsum – das sind wichtige Stellschrauben. Stickstoff ist ein systemisches Problem: Vom Acker bis zum Teller hängen alle Schritte zusammen. Nur wenn wir das Ganze betrachten, können wir nachhaltige Lösungen finden.